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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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neunundzwanzig. Aber da fällt mir auch schon jemand ein, der sich tatsächlich für sie interessieren könnte.«
    »Wer soll das sein?«
    Die Nachbarinnen sahen sich an. Im Stillen dachte ich, dass sie doch nicht so böse waren, denn natürlich nahm ich an, dass sie meinen Onkel meinten.

    »Hast du denn gar keine Idee?«
    »Aber wenn ich euch doch sage: Ich weiß es nicht.«
     
    Ich war so sehr von diesem Gespräch gefesselt, dass mir der Mund offen stand und ich beinahe anstelle meiner Mutter geantwortet hätte, als sie sich plötzlich umdrehte und mich in die Küche schickte, um eine neue Schüssel zu holen. Die Frauen hielten jede ein Messer und eine Aubergine in der Hand.
    »Also werdet ihr mir nun sagen, wer um die Hand meiner Schwägerin anhält?«
    Ich stand in der Küche und hörte, wie die bigotte Frau den Namen des Mullahs erwähnte. Da fiel mir das große Tablett aus der Hand, was enormen Lärm verursachte.
    »Was hast du denn nun wieder angestellt?« rief meine Mutter.
    »Nichts«, rief ich zurück und hob es auf.
    Ich stellte das Tablett neben sie und kehrte zurück an meinen Platz, um weiter meine Hausarbeiten zu machen.
    »Der Mullah? Der Mullah, der zum Gebet hierher kommt?« fragte meine Mutter verwundert.

    »Natürlich, einen anderen gibt es ja nicht.«
    »Aber woher weißt du das?«
    »Ich weiß es eben. Man erzählt sich, seine letzte Frau könne keine Kinder bekommen, und so trägt er sich mit der Absicht, eine neue Frau zu nehmen.«
    »Aber er wird nie eine stumme Frau wollen.«
    »Hör mal, wenn ich dir davon erzähle, dann deswegen, weil ich gehört habe, dass er sie eines Freitags, als er zum Gebet hier war, gesehen hat und offenbar interessiert ist. Da er bereits eine junge Frau in ihrem Alter hat, kann die Tatsache, dass sie stumm ist, sogar von Vorteil sein, so können sich die beiden Frauen nicht zanken.«
    »Im Grunde habe ich nichts dagegen, der Mullah ist wohlsituiert, aber ich brauche die Einwilligung meines Mannes.«
    »Ich wüsste nicht, was er dagegen haben könnte. Ein Ehemann für seine stumme Schwester, die fast dreißig ist - so etwas fällt nicht vom Himmel.«
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte, Schweigen bewahren oder der Stummen alles erzählen und meinen Vater in diesen teuflischen Plan einweihen. Schließlich beschloss ich, meine Tante nicht verrückt zu machen und mit meinem Vater zu sprechen.

M eine Mutter kam mir zuvor. Sie verlor keine Zeit und setzte meinen Vater sofort in Kenntnis. Offenbar hatte sie eines Abends, bevor sie zu Bett gingen, ihre ganze Kunst darauf gewandt, ihn um den Finger zu wickeln. Ich glaubte, er würde allein bei dem Gedanken, seine Schwester mit einem Mullah verheiraten zu müssen, wütend werden, aber dem war nicht so. Am kommenden Tag nahm mein Vater die Stumme nach dem Abendessen an die Hand und zog sie mit in den Hof. Ich sah zu meiner Mutter, die meinen Vater mit besorgten Blicken beobachtete. Da wurde mir bewusst, dass sie ihre Schwägerin hasste. Ich konnte die beiden nicht hören, aber da ich direkt neben der Fenstertür saß, konnte ich sie zumindest sehen. Mein Vater hielt noch immer die Hand seiner Schwester und redete auf sie ein; sie hörte ihm zu und versuchte die zärtliche Geste ihres Bruders zu verstehen. Meine Mutter kam näher und stellte sich neben mich, um zu sehen, wie es lief; doch je länger mein Vater mit ihr
sprach, desto mehr verhärteten sich die Gesichtszüge der Stummen. Sie schüttelte den Kopf, zog die Hand zurück und warf meiner Mutter einen feindseligen Blick zu, dann ging sie in den hinteren Teil des Hofs und kauerte sich in eine Ecke. Mein Vater kam näher, versuchte abermals sie zur Vernunft zu bringen, doch die Stumme sprang auf, sah ihm böse funkelnd in die Augen und verzog sich in eine andere Ecke. Mein Vater kehrte zurück ins Zimmer und sagte zu meiner Mutter:
    »Nichts zu machen.«
    »Was heißt das? Du entscheidest, nicht sie, du bist ihr Vormund und sorgst für sie.«
    »Du willst doch nicht, dass ich meine Schwester zwangsverheirate?«
    »Wer spricht hier von Zwang? Wenn sie erst einmal verheiratet ist, wird sie verstehen, dass es zu ihrem Besten war. Was weiß sie schon von der Ehe? Es ist nicht gut, eine alte Jungf … eine Frau in ihrem Alter im Haus eingesperrt zu halten. Ist dir klar, dass dies vielleicht die Chance für sie ist, die einzige, einen Mann zu bekommen, Kinder, eine Familie zu haben?«
    »Was soll ich denn machen?« fragte mein armer hilfloser Vater.

    »Du könntest zum
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