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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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mich auch nicht, sie hat mich auch nicht geliebt. Sie hatte beschlossen, bis Neujahr Trauer zu tragen. Außerdem wollte sie einen gebundenen Koran kaufen, weil der meines Großvaters, den sie geerbt hatte, sehr alt war. Mein Onkel sagte: Je älter, desto wertvoller. Die Leute im Westen mögen alte Gegenstände sogar lieber, selbst wenn sie in schlechtem Zustand
sind. Meine Mutter antwortete, dass der Koran kein Gegenstand, sondern ein heiliges Buch sei und dass die Leute aus dem Westen ohnehin nichts vom Koran verstünden, sei er nun alt oder neu. Mein Onkel erwiderte: Ach, und du verstehst etwas davon? Kannst du neuerdings lesen?
    Seit dem Tod meines Großvaters hatten sie häufig Streit. Mein Onkel hatte ein gebrauchtes Videogerät gekauft und lieh von Zeit zu Zeit Filme aus, aber meine Mutter wollte nichts davon wissen, weil sie meinte, die Filme aus dem Westen würden uns verdummen und hätten einen schädlichen Einfluss. Die Stumme, mein Onkel, einige Freunde und ich hatten jedenfalls unsere Kinoabende. Aber meine Mutter sagte zu ihrem Bruder, es sei nicht gut, uns gemeinsam mit den Jungs aus dem Viertel Filme zu zeigen, worauf mein Onkel antwortete, er wisse schon, was er tue, und er würde uns nicht mitnehmen, wenn er der Meinung wäre, dies wäre kein Film für uns. Manchmal veranstaltete er auch Vorführungen, bei denen die Jungen unter sich blieben, um sich erotische oder pornographische Filme anzusehen. Ich liebte unsere Kinoabende. Die Stumme röstete Kürbiskerne oder Melonenkerne, die sie zuvor gesalzen
und in der Sonne getrocknet hatte; sie bereitete auch Sirup vor. Mein Onkel behielt während der ganzen Vorführung die Fernbedienung in der Hand, und sobald es eine Szene mit Küssen oder nackten Körpern gab, spulte er zur nächsten Szene weiter. Seine Kumpels regten sich auf: Mensch, du nervst, lass es uns doch ansehen. Aber mein Onkel erwiderte: Ihr habt gut reden, eure Schwestern sind ja nicht dabei. Seine Freunde sagten darauf: Dann bring sie halt nicht mit, die beiden, und lass uns in Ruhe den Film gucken. Worauf mein Onkel versetzte: Sie sind aber da, und wenn ihr nicht einverstanden seid, könnt ihr ja gehen, die Tür steht offen, und soweit ich weiß, habt ihr keinen Eintritt bezahlt. Ich bewunderte meinen Onkel dafür, denn er gab nicht nach und opferte lieber ein paar Szenen, als die Stumme und mich von den Kinoabenden auszuschließen. Für nichts auf der Welt hätten seine Kumpels ihre Schwestern mitgenommen, aus Angst, man könne sie im Viertel als ehrlos bezeichnen. Ich war mir sicher, dass auch sie große Lust hatten, an unseren Kinoabenden teilzunehmen. Also erzählte ich zwei Freundinnen, die die Schwestern der Freunde meines Onkels waren, von dem Film, den wir tags zuvor gesehen hatten, zumindest
das, was ich verstanden hatte, denn die Filme waren auf Englisch ohne Untertitel, aber wir konnten dem groben Handlungsablauf folgen. Ohne sie gesehen zu haben, erzählte ich detailliert von den erotischen Szenen. Meine Freundinnen, die ganz grün vor Neid waren, hörten mir fassungslos zu: Dein Onkel lässt dich all diese Szenen zusammen mit den Jungs aus dem Viertel anschauen? Und ich log ganz selbstverständlich weiter, zuckte mit den Achseln. Ich ahnte ja nicht, welche Folgen dies haben sollte.

H eute ist mein Wärter nicht vorbeigekommen. Ich habe Entzugserscheinungen. Die Schmerzen sind zurückgekehrt. Ich hoffe, er hat meinetwegen keine Schwierigkeiten.
     
    Nach einiger Zeit schöpfte auch meine Mutter Verdacht und beobachtete das Verhalten der Stummen, wenn mein Onkel im Hause war. Sie wollte sie um jeden Preis von ihrem Bruder fern halten. Gelegentlich hatte ich einen argwöhnischen Blick aufgeschnappt und gehört, wie sie zu meinem Vater sagte:
    »Es ist nicht gut, dass die Stumme und deine Tochter mit den Jungen diese Filme anschauen.«
    »Lass sie ein wenig leben, dein Bruder ist ja dabei.«
    »Die Leute reden schon.«
    »Man darf nicht zu viel auf das Geschwätz der Leute geben.«
    »Man kann die Tore einer Stadt verschließen, aber nicht den Mund der Leute.«

    »Eben, hör nicht auf ihren Tratsch.«
    Die Leute erzählten, mein Onkel würde uns, also der Stummen und mir, in Anwesenheit der Männer aus dem Viertel pornographische Filme zeigen, und das Haus meines Großvaters habe sich nach seinem Tod in ein Bordell verwandelt. Nachdem meine Mutter von diesen Gerüchten gehört hatte, verbot sie uns, noch einen Fuß in das Haus meines Onkels zu setzen. Eines Abends kreuzten zwei
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