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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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umarmt mich manchmal so stark, dass ich nicht mehr weiß, wo mein Körper aufhört und ihrer anfängt. Uns verband eine symbiotische Liebe, sie sah in mir das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war. Diese Frau, ihre Gegenwart, ihre Art, im Schweigen zu leben, haben
tiefe Spuren in mir hinterlassen. Ihr Leben, ihre Geschichte sind mit meinem Schicksal untrennbar verbunden, aber all das wusste ich damals noch nicht; ich ließ es zu, dass sie mir das Haar kämmte, es gefiel mir. Ich fühlte mich von ihren Händen behütet, beschützt, wir waren Komplizinnen, verbunden durch eine Art Alchimie, ohne Worte. Sie zog mich groß, denn meine Mutter, die Arbeiterin war, ging morgens aus dem Haus und kam abends erschöpft zurück. Wenn wir allein waren, bat sie mich, ihr laut die Märchen aus Tausendundeiner Nacht vorzulesen, die mein Vater ihr geschenkt hatte. Ich schlüpfte gern in die Rolle der Scheherazade.
     
    Trotz des Fiebers sind die Bilder und Erinnerungen in meinem Kopf noch scharf umrissen und ungetrübt. Ich erinnere mich ausgezeichnet an den Tag, da mich eine erste Ahnung hinsichtlich der Stummen und meines Onkels beschlich. Damals kam ich gerade von der Schule nach Hause; auf der Straße war ich meinem Onkel begegnet; die Stumme war allein zuhause, sie sah ungewohnt fröhlich aus. Der Geruch der Kartoffelpuffer, die sie uns zum Mittagessen vorbereitet hatte, weckte in mir einen Bärenhunger.
Eilig deckte ich den Tisch. Mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester waren ebenfalls hungrig. Ungeduldig warteten wir, dass sie die Kartoffelpuffer brachte und uns bediente, aber sie ließ uns warten. Ich ging in die Küche und sagte ihr vorwurfsvoll: Worauf warten wir noch? Da packte sie mich an den Schultern und schob mich unsanft aus der Küche. Es war das erste Mal, dass sie mich so behandelte. Ich ging in eine Ecke, um zu schmollen; mir war klar geworden, dass irgendetwas vorgefallen war. Nach langem Warten kam schließlich mein Onkel, und die Stumme brachte endlich die Kartoffelpuffer. Sie aß nichts, aber verschlang meinen Onkel mit den Augen, ihre Wangen glühten: Sie war verliebt, mit der ganzen Leidenschaft eines reinen, jungfräulichen Herzens von neunundzwanzig Jahren. Sie strahlte eine ungeheuere Kraft aus. Für eine Frau zeigte die Stumme ihr Begehren allzu deutlich; in ihren Augen lag ein zügelloses Verlangen, wenn sie den Blick auf meinen Onkel richtete, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren nichts von Frauen verstand. Er kaute seine Kartoffelpuffer und zeigte ihr die kalte Schulter, vielleicht weil sie stumm war und sieben Jahre älter als er.

    Von dem Tag an schaute ich mich nach der Schule stets nach meinem Onkel um, der häufig mit einer Bande von Herumtreibern aus dem Viertel zusammen war; und wenn ich ihn entdeckte, rief ich ihm zu: Komm doch heute zu uns zum Mittagessen.

W as schreibst du da in dein Heft?«
    »Es dauert zu lange, das zu erzählen.«
    Heute habe ich wieder einen Bonbon von meinem Wärter bekommen. Meine letzte Wegzehrung.
     
    Wir hatten die Trauerfeier für meinen Großvater nicht bezahlen können. Die Leute aus dem Viertel sagten, wir hätten ihn wie einen Hund begraben. Um dem üblen Gerede Einhalt zu gebieten und den Respekt der Leute zurückzugewinnen, bat meine Mutter den Mullah der Moschee, freitagmorgens zu uns zu kommen, um das Totengebet zu sprechen. Meinem Vater und meinem Onkel gefiel der Gedanke nicht, dass ein Mullah das Haus betrat, sie sagten, das brächte Unglück, aber meine Mutter entgegnete, sie bezahle dies aus eigener Tasche, und schließlich ginge es um den Ruf ihres verstorbenen Vaters. Jeden Freitagmorgen klingelte also um zehn Uhr der Mullah an der Tür; er blieb zehn Minuten, solange wie er brauchte, um
ein paar Koranverse auf Arabisch aufzusagen und eine Tasse Tee zu trinken, worauf er sein Geld einstrich und verschwand. Meine Mutter hatte mir aufgetragen, während des Gebets ein Auge auf die Stumme zu haben, damit sie nicht mit unbedecktem Haupt vor dem Mullah erschien. Bis zu seinem Aufbruch warteten wir entweder im Hof oder auf der anderen Seite des Zimmers hinter dem Raumteiler. Eines Morgens wickelte ich gerade meine kleine zweijährige Schwester, sie entschlüpfte mir und lief mit ihrem kleinen nacktem Hintern zu dem Mullah, der beleidigt reagierte und meiner Mutter Vorhaltungen machte: Die Erziehung eines Mädchens zur Schamhaftigkeit müsse schon in der Wiege beginnen. Meine Mutter stammelte ein paar Entschuldigungen und stand auf, um meine
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