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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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aber dafür, dass wir arm waren, waren meine Schwester, mein Bruder und ich immer gut gekleidet, was uns die neiderfüllten und feindseligen Blicke der Nachbarinnen eintrug. Die Stumme war eine ausgezeichnete, vielleicht ein wenig zu fantasievolle Schneiderin. Mein Vater war damals
Lastwagenfahrer, er arbeitete für eine Transportfirma, aber er hatte selten Aufträge, weil er keinen eigenen Laster besaß. Gelegentlich fuhr er Stoffballen oder Kleider, manchmal brachte er auch welche mit nach Hause. Dann trennte die Stumme die Kleider auf und nähte daraus herrliche Sachen. Sie schneiderte mir ein rotes Kleid, das ich über alles liebte, aber meine Mutter erlaubte nicht, dass ich es draußen trug; sie sagte, es sei zu auffällig, dabei hätte ich es so gern allen gezeigt. Unser sauberes und gepflegtes Aussehen, das wir dem Talent der Stummen verdankten, erfüllte mich mit Stolz und einem Gefühl der Überlegenheit. Obwohl wir nie Geld genug besaßen, habe ich mich nie arm gefühlt; und obwohl wir arm waren, hatte ich eine glückliche Kindheit. Ich liebte meinen Vater, ich vergötterte die Stumme und hatte Mitleid mit meiner Mutter. Die Liebe der Stummen, die sich von allen anderen Frauen unterschied, gab mir wiederum das Gefühl, selbst anders zu sein als die andern Kinder. Ich war auserwählt. Meine Mutter mochte die Stumme nicht, duldete sie aber, davon abgesehen hatte sie keine Wahl; sie war eifersüchtig auf die zarte Liebe, die meinen Vater und seine Schwester verband, vielleicht aber auch auf meine Zuneigung für die Tante.

H eute hat mir der Wärter zu meiner Ration Opium auch noch einen Bonbon gereicht. Mit Minzgeschmack. Ich ließ ihn auf der Zunge zergehen, ohne ihn zu lutschen, damit der Genuss so lange wie möglich anhielt. Ein Bonbon, den man in einer dunklen Zelle lutscht, ist wie eine Erinnerung an das Leben.
     
    An einem eisigen Dezembertag kam mein Onkel vom Militärdienst zurück. Wir hatten nicht mit ihm gerechnet. Es war nachmittags, ich fegte gerade das Schlafzimmer, denn ich kümmerte mich schon seit einigen Monaten um den gesamten Haushalt. Die Stumme saß wie angewurzelt auf der Erde, stand nur auf, um zur Toilette zu gehen. Sie hatte sich aus dem Leben zurückgezogen. Meine Eltern, vor allem mein Vater, machten sich große Sorgen um sie. Es war entsetzlich, sie den ganzen Tag so in der Ecke hocken zu sehen.
    Eines Tages, als ich ihr zum Mittagessen ihren Teller
brachte, sah sie mir unverwandt in die Augen, als würde sie mich anflehen; ich konnte ihren düsteren Blick, der mir das Herz brach, nicht ertragen, stellte den Teller ab und senkte den Blick. In ihren Augen lag eine Mischung aus Angst und Schwermut, etwas, das dem Wahnsinn sehr nahe schien. Es war das erste und einzige Mal, dass ich vor ihr Angst hatte, Angst davor, mit ihr allein zu sein.
     
    Es hatte in einer Winternacht begonnen, in der es stark geschneit hatte. Die Kälte hatte mich geweckt, ich hatte die Decke über den Kopf gezogen und mich an die Stumme schmiegen wollen, um mich an ihr zu wärmen, aber ihr Lager war leer und kalt. Ich schlug die Augen auf, sie war nicht da, und die Glastür zum Hof war geöffnet. Ich stand auf, um sie zu schließen, da sah ich im Dunkeln einen Körper im Schnee liegen. Mich überkam Furcht, doch dann begriff ich, dass sie es war. Ich zog mir Schuhe an und ging hinaus. Meine Zähne klapperten vor Kälte. Ihre Beine waren nackt, ich versuchte, ihr aufzuhelfen, zog sie am Arm, aber sie wehrte sich. So rutschte ich aus und fiel hin. Zunächst hielt ich das Ganze für ein Spiel. Aber du wirst vor Kälte sterben, sagte ich zu ihr. Mit
der Hand stopfte sie sich Schneebälle zwischen die Schenkel, als wäre sie betrunken, trunken vor Liebe, dem Wahnsinn verfallen. Für einige Sekunden sah ich, wie sie sich mit den Fingern den Schnee ins Geschlecht stopfte, dieser Anblick erschreckte mich. Erneut versuchte ich, sie hochzuziehen, aber sie stieß mich fort, und ich fiel wieder hin; mittlerweile waren auch meine Eltern wach geworden, sie standen auf der Türschwelle und sahen uns verdutzt und vorwurfsvoll an. Die Stumme fuhr fort, sich Schnee in die Scham zu stecken, kehrte aber glücklicherweise meinen Eltern den Rücken zu, und im Dunkeln konnten sie nicht sehen, was sie tat. Ich stürzte mich auf sie, um die Bewegungen ihrer Hand zu verdecken. Mein Vater holte sie herein, sie schien nicht mehr bei sich zu sein und ließ alles mit sich geschehen. Meine Mutter flehte unentwegt Gott an, was meinem Vater
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