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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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an der Tür klingelte, beruhigte sich die Stumme wieder, sie setzte sich hin, und während der ganzen Zeit, da mein Onkel
bei uns weilte, seinen Kaffee trank und ein paar Witze erzählte, rührte sie sich nicht von der Stelle und hörte aufmerksam zu. Eines Nachts, lange nach seinem Aufbruch, als wir bereits schliefen, läutete es wieder. Die Stumme öffnete die Tür, es war mein Onkel; meine Mutter stürzte auf ihren Bruder zu; er sagte, ihr Vater sei eben gestorben. Das war an sich keine schlechte Nachricht, denn mein Großvater war wegen seiner Invalidität eine schwere Belastung für uns, gerade für meine Mutter und meinen Onkel, die ihn pflegten; in gewissem Sinne war es sogar eine Erleichterung. Daher staunte ich über die Tränen meiner Mutter, die am Boden zerstört wirkte; meinem Onkel war dieser übertriebene Gefühlsausbruch genauso zuwider, zumal er selbst weder Tränen noch Trauer zeigte. Seine Gelassenheit war allerdings ebenso verstörend. Offenbar hatte er im Krieg zu viele junge Menschen sterben sehen, als dass ihn der Tod eines alten Invaliden, und sei es der des eigenen Vaters, aus der Ruhe gebracht hätte. Was meinen Vater anging, so machte er eine betroffene Miene und versuchte meine Mutter mit ungeschickten Worten zu trösten: Na komm, ist doch nicht schlimm. In seiner Naivität lag eine solche Komik, dass ich eilig auf den Hof lief,
damit meine Mutter mich nicht in Gelächter ausbrechen sah.
    Am nächsten Tag wurde mein Großvater auf der billigsten Parzelle des Friedhofs beerdigt: Selbst unter der Erde bestanden die Klassenunterschiede weiter. Jeden Freitag ging meine Mutter zum Beten ans Grab ihres Vaters, einen einfachen Erdhaufen. Gern hätte sie ihm einen Grabstein gekauft, aber der war teuer. Sie nahm mich immer mit; mein Onkel begleitete uns, um seiner Schwester einen Gefallen zu tun. Sie brachte jedes Mal mehrere Flaschen Wasser mit, um das Grab meines Großvaters zu gießen; einmal sagte mein Onkel zu ihr: Ich will dir ja nicht deine Illusionen nehmen, aber dein Vater wird davon nicht wachsen. Darauf weinte meine Mutter noch heftiger und beschimpfte ihren Bruder: Schämst du dich nicht, vor dem frischen Grab deines Vaters Scherze zu machen. Sie sagte, wenn man die Toten mit Wasser begieße, litten sie keinen Durst. Mein Onkel und ich unterdrückten ein Lachen. Meine Mutter war sehr gläubig und ging regelmäßig in die Moschee; und - so sehr mir diese Worte wehtun - sie war auch ziemlich dumm. Es tat weh, sie als Mutter zu haben; und ihre Dummheit sollte uns alle noch teuer zu stehen kommen.
    Nach dem Tod meines Großvaters schaute mein Onkel häufiger bei uns vorbei, er aß zu Mittag und zu Abend mit uns. Der Stummen ging es derweil zusehends besser. Sie wurde wieder gesund, war lebendiger als zuvor, ihre Augen leuchteten wie Lichtreflexe auf dem Wasser. Sie hatte angefangen, im Hof Kräuter und Blumen anzupflanzen; sie kümmerte sich jeden Tag um das Beet, goss es, rupfte Unkraut … Meine Mutter sagte zu ihr: Ich habe es bestimmt ein Dutzend Mal probiert, hier wächst nichts, die Erde taugt nichts. Aber in diesem Jahr gedieh alles: Radieschen, Basilikum und Rosen. Meine Mutter war neidisch.
    Eines Abends kam wie üblich mein Onkel vorbei, er war in Eile, ließ uns seine Schmutzwäsche da und verschwand darauf gleich wieder. Nach seinem Weggang hatte sich auch die Stumme hinausgeschlichen. Als sie nicht zurückkam, suchte ich sie im Hof. Sie stand in einer Ecke, das Gesicht zur Mauer, als wollte sie sich verstecken. Ich kam näher, um zu sehen, was sie da eigentlich machte, so im Halbdunkel. Sie hatte sich das Hemd meines Onkels übers Gesicht gelegt und atmete seinen Geruch ein. Damals hielt ich das für ein Spiel, aber ich hatte trotzdem Angst, meine Eltern könnten sie dabei sehen.

I n der Zelle ist es ganz still, ich höre nur die Schläge meines Herzens, die Dämonen der Vergangenheit springen mich an, ich habe Angst, ich ersticke, ich will nicht mit diesem Hass sterben, der mich erfüllt und mich auszehrt, ich will nicht mit diesem tief in mir eingegrabenen Schmerz gehängt werden. Ich will ihn nicht mit ins Grab nehmen, sondern in Frieden sterben, befreit, ich muss mir den Schmerz aus dem Herzen reißen, meinen Hass in dieses Heft bannen.
    Woran auch immer in meiner Kindheit ich denke, stoße ich auf das Bild der Stummen. Sie kämmt mir ausgiebig das Haar und flicht mir dann zwei lange Zöpfe, genau wie ihre. Sie fragt meine Hausaufgaben ab, klatscht dann in die Hände und
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