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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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Gebärdensprache beibringen zu lassen, aber meine Tante blieb hartnäckig und brach ihr Schweigen nicht. Mein Vater fühlte sich schuldig, denn hätte er damals das Haus nicht verlassen und Schwester und Mutter nicht alleine gelassen, wäre nichts passiert. Er hätte eingreifen und den Vater daran hindern können, die Mutter zu verprügeln. Was mich an jenem Tag berührte, mehr als die Geschichte selbst, war die Stimme meines Vaters. Sie war völlig gefühllos. Er sprach so, als sei Gewalt eigentlich etwas völlig Banales, das alltägliche Los derer, die im Elend leben und sterben. Meine Mutter führte oft einen Spruch im Munde, der mir damals auf die Nerven
ging: »Niemand kann gegen sein Schicksal an, jeden trifft das Los, das ihm gebührt, so ist das Leben.«
     
    Ich weiß noch, in jener Nacht war Vollmond, und ich konnte nicht schlafen. Auf dem Vorhang mit dem Rautenmuster, den meine Mutter als Raumteiler aufgehängt hatte, sah ich die Szene vor mir, deren Zeuge meine Tante mit zehn Jahren geworden war, den Mord, der ihr für immer die Sprache verschlagen hatte. Die Stumme lag neben mir, auch sie hatte die Augen geöffnet. Doch die Bilder, die ich auf dem Vorhang sah, verschwanden mit einem Schlag, als das Keuchen meines Vaters und die erstickten Lustschreie meiner Mutter einsetzten, und die Stumme und ich lauschten dem Duett meiner Eltern auf der anderen Seite des Vorhangs.

M ein junger Wärter und Schutzengel hat mir meine Ration Opium gegeben.
    »Aus welcher Stadt kommst du?«
    »Ich darf nicht mit dir sprechen.«
    »Aber das hier darfst du mir geben?«, sagte ich und nahm das zerknüllte Taschentuch.
     
    Die Stumme war nicht wie die andern, sie glich niemandem. Die Leute hielten sie für verrückt, weil ihr Verhalten widersprüchlich war und sie sich freizügig benahm. Sie setzte sich über sämtliche Verbote hinweg. Erst sehr viel später begriff ich, warum sie so anders war. Sie lief immer mit unbedecktem Haupt herum, selbst wenn sie die Haustür öffnete, und das, obwohl sich in unserer Gegend nie eine Frau ohne Kopfbedeckung vor der Tür zeigte - ganz gleich, ob sie verrückt, stumm, blind oder glatzköpfig war -, aus Angst, von einem Passanten gesehen zu werden. In unserem Viertel gab es nur Männer auf der
Straße, die Frauen gingen nie aus, und selbst im Haus trugen sie immer ein Tuch um den Kopf, wie meine Mutter. Die Stumme, die sich stets in lange bunte Gewänder kleidete, barfuss und mit zwei langen geflochtenen Zöpfen, die ihr bis zur Brust reichten, umherging, war genauso frei wie ein Mann und ebenso gründlich wie eine Frau; sie konnte eine kleine Ewigkeit damit verbringen, ihre Fußnägel zu lackieren oder sich vor dem Spiegel die Augen zu schminken. Außerdem rauchte sie, sie steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und hielt sie zwischen den Zähnen, während sie Geschirr spülte oder Wäsche wusch; sie zog daran wie Pokerspieler in amerikanischen Filmen. Ich sah ihr gern zu. Ihr ganzes Wesen faszinierte mich. Nach allem, was sie mit zehn Jahren erlebt hatte, hatte sie vor nichts mehr Angst, sie lebte nach ihrer Fasson. Manchmal war sie aber auch von einer Traurigkeit erfüllt, die so dunkel und tief war wie die Wasser des Ozeans. Dann zog sie sich ganz in sich zurück, und niemand durfte sich ihr nähern. Anschließend war sie wieder fröhlich und unbeschwert und sah aus wie ein kleines, Freude sprühendes Mädchen, das nichts vom Leben weiß. Die Tatsache, dass sie stumm war, verlieh ihr Freiheiten, die sie wohl
nicht gehabt hätte, wenn sie geredet hätte. Stumm sein bedeutete schon an sich, nicht wie die andern zu sein, ihr Stummsein weckte den Argwohn der andern. Sie war unerhört anders und besaß ein ungewöhnliches Talent, sich Feinde zu machen. Sie galt als böse, als wilde Frau, auf der ein Fluch lastete. Im Viertel wurde viel über sie getratscht, es hieß, wir würden in unserem Haus eine Teufelin versteckt halten, eine Zauberin, die alle ringsherum mit einem Bann belegte.
    Ich war eines der wenigen Mädchen in unserem Viertel, das zur Schule ging. Viele Familien hatten nicht das Geld, um ihre Kinder in die Schule zu schicken. Außerdem lag die nächste Schule ziemlich weit entfernt, meine Mutter machte sich immerzu Sorgen, weil ich durch Straßen gehen musste, in denen es von Dealern nur so wimmelte, aber mein Vater bestand darauf, dass ich weiter zur Schule ging, und auch die Stumme. Wir lebten in einer ziemlich heruntergekommenen Straße in einem trostlosen Viertel,
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