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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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Ich geriet in Panik. Ich kann nicht sagen, warum, aber ich fühlte mich schmutzig, schuldig. Sich von der Kindheit, oder zumindest von dem, was davon übrig geblieben war, zu verabschieden und ein für alle Mal zur Frau zu werden, war in unserer Gegend kein Geschenk. Ich blieb eine Weile im Bad eingeschlossen, das kalte Wasser tat mir gut. Schließlich musste ich rauskommen, weil mein kleiner Bruder an die Tür klopfte. Ich hielt mich tapfer. Meine Mutter war gerade dabei, Wäsche zu waschen. Als ich sah, wie sie den Hemdkragen meines Vaters rubbelte, wurde mein Schuldgefühl wegen der blutigen Unterhose noch stärker. Ich traute mich nicht, es ihr zu sagen, obwohl sie nie gewalttätig gewesen war. Sie hat mich nie geschlagen, aber ich habe mich ihr nie nahe gefühlt. Ich wollte nicht werden wie sie, in keinerlei Hinsicht, niemals. Ich wollte nicht,
dass sie ihresgleichen in mir sah: eine Frau unseres Viertels. Ich glaubte an eine andere Bestimmung. Mag sein, dass ich in dem Moment nicht genau das dachte, aber ich fühlte mich hilflos, weil ich nun eine Frau war. Noch immer stand ich mit überkreuzten Beinen vor der Toilettentür. Da stand die Stumme auf, kam auf mich zu und gab mir eine Binde. Ich nahm sie, und wir schauten uns in die Augen, ich voller Dankbarkeit und sie zärtlich und verständnisvoll. Mit der Hand strich sie mir über die Wange. Die kurze Berührung gab mir Kraft und eine Gelassenheit, die meine Hilflosigkeit aufwog. Heute habe ich wieder Blutungen, doch die Stumme ist schon lange nicht mehr da. Alle möglichen Bilder rasen mir durch den Kopf und verwirren mich, aber ich muss weitermachen. Lieber Gott, gib mir die Kraft, diesen Bericht möglichst zusammenhängend zu Ende zu bringen.

I ch habe den Wächter gefragt, ob er nicht noch ein Opiumstückchen für mich hat. Und er hat geantwortet, er würde mir am Nachmittag eins bringen. Er hat schöne honigfarbene Augen.
     
    Mein Vater war weder drogensüchtig noch gewalttätig, er nahm unsere Armut und Ohnmacht demütig hin. Er war ein wenig grobschlächtig, wie Bauarbeiter es häufig sind, konnte aber auf seine Weise, wenn auch selten, zärtlich sein. Einmal sagte er, ich würde der Stummen in mancherlei Hinsicht ähneln, ich hätte denselben Charakter; und sie sei, wie ich, sehr gut in der Schule gewesen. Ich wusste, dass er schon mit vierzehn Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, angefangen hatte, auf dem Bau zu arbeiten, um für seine Schwester zu sorgen. Immer wieder hatte ich ihn nach seiner Schwester gefragt, aber jedes Mal war er mir ausgewichen. Am zwanzigsten Todestag meiner Großmutter gingen wir wie jedes Jahr auf den Friedhof. Die
Stumme war zu Hause geblieben. Sie verließ das Haus nie, nicht einmal, um ans Grab ihrer Mutter zu gehen. Als wir zurückkamen, setzte sich mein Vater in den kleinen Hof hinter dem Raum, den wir bewohnten. Jedes Frühjahr versuchte meine Mutter, dort Kräuter zu züchten, aber sie gediehen nie. Mein Vater sagte: »Dir fehlt der grüne Daumen«, das kränkte sie. Ich betrachtete meinen Vater, der nachdenklich und seufzend an seiner Zigarette sog, und setzte mich neben ihn. Warum die Stumme stumm geworden war, wollte ich wissen. Und an diesem Tag erzählte er mir, dass ihr Vater drogensüchtig gewesen war - wie die meisten Männer im Viertel - und sie oft geschlagen hatte. Er konnte sehr brutal sein, wenn er auf Entzug war. Vor auf den Tag genau zwanzig Jahren war er spät nach Hause gekommen und hatte angefangen, herumzukrakeelen. Mein Vater, damals noch Teenager, war aufgestanden und aus dem Haus gegangen, weil er das Gebrüll nicht mehr ertragen konnte. Als er am nächsten Morgen in aller Frühe zurückkam, sah er seine Mutter mit dem Tode ringen und seine Schwester halb gelähmt in einer Ecke liegen. Auf der Polizeistation bestritt der Vater, sie geschlagen zu haben. Und als der Polizist meine damals zehnjährige Tante
befragte, schaute sie ihren Vater an, machte aber den Mund nicht auf. Ihre Mutter starb an inneren Blutungen. Nach drei Monaten Gefängnis wurde mein Großvater entlassen, sechs Monate später starb er an einer Überdosis. Mein Vater sorgte für seine Schwester, er brachte sie sogar zwei Mal zu Ärzten, die ein schweres Trauma diagnostizierten. Sie weigerte sich strikt, gegen ihren Vater auszusagen, und hat seitdem nie mehr ein Wort gesprochen. Mein Vater hoffte lange, sie könne geheilt werden. Wochen, Monate, Jahre vergingen, doch meine Tante fand die Sprache nie wieder. Er versuchte, ihr
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