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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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und mir furchtbar auf die Nerven ging. Sie zog der zitternden Stummen das nasse Kleid aus, auch ich zitterte. Es war das erste Mal, dass ich sie ganz nackt sah; ihre Brustwarzen waren hart, und von ihrem Körper ging eine solche Erotik, Sexualität, ein solches Begehren aus, dass meine Mutter und ich tiefe Scham empfanden. Meine Mutter zog sie rasch wieder an.

    Schon in dieser Nacht, als sie wieder neben mir lag, spürte ich, dass sie nicht mehr dieselbe war. Am nächsten Tag war sie krank, glühte vor Fieber. Sie wurde von heftigen Bauchkrämpfen geschüttelt. Mein Vater glaubte, sie würde sterben. Das Fieber dauerte lange, mehrere Wochen, an. Eines Nachts, als sie besonders unruhig war, legte ich ihr die Hand auf die Stirn; sie ergriff sie, ich legte mich neben sie. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hielt sie sie noch immer fest.
     
    Nach ihrer Krankheit war die Stumme verändert; man hätte meinen können, es habe sich eine Verwandlung vollzogen. Wenn man etwas zu ihr sagte, hörte sie nicht mehr zu, als würde sie nichts begreifen, sie kämmte mir nicht mehr das Haar, kochte nicht mehr, kümmerte sich um nichts, schneiderte nicht mehr; sie bewegte sich nicht mehr, sah uns nicht mehr an. Den ganzen Tag verbrachte sie in einer Ecke des Zimmers auf dem Kelim, und wenn sie genug gesessen hatte, legte sie sich an derselben Stelle nieder. Die Medikamente, die der Arzt ihr verschrieben hatte, bewirkten, dass sie viel schlief, doch manchmal setzte sie sich mitten in der Nacht auf und schaute durchs Fenster auf die Mauer im Hof. Auch ich war auf der Lauer, ich
wartete auf eine Geste, ein Zeichen von ihr, aber mit jedem Tag entfernte sie sich ein Stück weiter von uns, ihr Blick war leer, ihr Schweigen bedrückend. Die Zeit um sie herum dehnte sich endlos aus, eine Aura aus Geheimnis und Tod umgab sie, ich konnte es geradezu spüren. Die Last ihres Schweigens, das sich seit Jahren angesammelt hatte, schien sie zu erdrücken, in den Wahnsinn zu treiben. Ich beobachtete sie, folgte ihrem Blick, aber er blieb nirgends haften, schien beständig in die Ferne zu schweifen. Minutenlang musterte ich ihr Gesicht und glaubte, ihre Einsamkeit zu spüren, die Tiefe des Abgrunds wahrzunehmen, in den sie gestürzt war: eine dunkle, unergründliche Leere. Sie schien nicht mehr unter uns zu sein, ich weinte und betete zu Gott, dass die Stumme ins Leben zurückkehren möge. Doch es war nicht Gott, sondern mein Onkel, der sie uns wiedergab: Es war die Liebe, die die Stumme ins Leben zurückbrachte, ihre Liebe zu meinem Onkel.

I ch habe erfahren, dass du gehängt werden sollst«, hat mir der Wärter gesagt, als er mir meine Mahlzeit und das Stück Taschentuch gereicht hat.
    »Ich weiß.«
    »Hast du denn keine Angst?«
    »Weiß nicht.«
     
    Er wird wohl um die zwanzig sein; ich mit meinen fünfzehn Jahren bin so alt wie die Ewigkeit. Wie viele Tage und Nächte mögen es noch bis zur Hinrichtung sein, keine Ahnung. Aber egal, ich werde weiter schreiben und hoffe, dass mir genügend Zeit bleibt, meinen Bericht zu Ende zu bringen. Bald werde ich nicht mehr auf der Welt sein, doch was der Tod ist, weiß ich nicht. Manchmal bin ich am Ende meiner Kräfte, ich wünsche mir, dass die Geschichte, die ich diesem Heft anvertraue, mich überleben wird. Das Schreiben hilft mir, weiterzuleben, auch wenn hinter dieser Zellentür der Tod auf mich lauert.

    Am Ende der Straße wohnte mein Onkel zusammen mit meinem schwer kranken Großvater. Er spottete über alles, rauchte viel Haschisch und sah aus wie ein richtiger Filmstar. Sehr attraktiv. Abends, bevor er nach Hause ging, kam er gelegentlich zu uns. Einmal erzählte er eine lustige Geschichte über einen Kameraden beim Militär und imitierte dabei seinen Azeri-Akzent. Derweil saß die Stumme in ihrer Ecke und schien zuzuhören, auf ihrem Gesicht, das seit ihrer Krankheit keinerlei Regungen mehr zeigte, zeichnete sich plötzlich ein Lächeln ab: Nachdem sie seit Monaten nicht mehr auf uns reagiert hatte, hörte sie auf einmal meinem Onkel zu. Ihre Augen leuchteten.
    Tags darauf war die Stumme aufgestanden, hatte sich gewaschen und umgezogen. Jeden Abend weckten der kurze Besuch meines Onkels, seine Stimme, seine Anwesenheit aufs Neue die Lebensgeister in ihr. Schon am Nachmittag begann sie unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen oder ungeduldig im Hof umherzulaufen. Ihr Gesicht war dabei so ausdrucksvoll, dass man meinen konnte, sie würde gleich anfangen zu sprechen, irgendetwas sagen. Sobald es
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