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Die Stumme - La Muette

Titel: Die Stumme - La Muette
Autoren: Chahdortt Djavann
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Männer vom Revolutionskomitee bei ihm auf; zum Glück waren die Jungs unter sich und sahen einen Karatefilm an. Trotzdem wurde das Videogerät beschlagnahmt. Ich fühlte mich mitschuldig, behielt es aber für mich, dass ich meinen Freundinnen erotische Szenen geschildert hatte.

I ch bin erleichtert, heute ist der Wärter wiedergekommen. Ich habe meine Ration erhalten, ohne Bonbons, ohne ein Wort.
     
    Von Zeit zu Zeit kamen einige Nachbarinnen bei uns zusammen, um Gemüse zu putzen und dabei zu schwätzen. Im Allgemeinen beschränkten sich ihre Unterhaltungen darauf, über die anderen Frauen des Viertels herzuziehen. Das beschäftigte sie und ließ sie in dem Glauben, sozialen Austausch zu haben. Ihre Treffen fanden immer bei uns statt; dabei hatten wir nur einen Raum, und zwei Frauen, deren Männer im Gefängnis saßen, blieben jedes Mal bis zum Abend. Ich mochte unsere Nachbarinnen nicht, sie sahen die Stumme argwöhnisch an, und ich spürte, dass sie einen schlechten Einfluss auf meine Mutter hatten. Einige Male fragte ich empört: Warum finden die Treffen immer bei uns und niemals bei einer von ihnen statt? Ich kann mich nicht konzentrieren und meine
Hausaufgaben machen. Denn sie redeten meistens alle durcheinander und machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Doch meine Mutter schimpfte mich aus und versetzte, wenn ich wirklich fleißig und konzentriert wäre, würde ich nicht einmal hören, wenn ein Gewitter losbräche. Also versuchte ich meine Hausaufgaben zu machen, trotz ihrer Anwesenheit und trotz des Stimmengewirrs. Die Stumme setzte sich nie dazu, sie flüchtete in unsere kleine Küche, setzte Wasser für den Tee auf, kochte, oder aber sie kümmerte sich um die Kräuter und Blumen, die sie im Hof gepflanzt hatte. Eines Tages, ich machte gerade meine Hausaufgaben, war mir, als wäre mehrmals das Wort ›die Stumme‹ gefallen. Ich war beunruhigt und lauschte, um herauszufinden, was sie über meine Tante reden mochten. Da hörte ich, wie eine unserer Nachbarinnen, eine bigotte Frau, die jeden Freitag zur Moschee ging und deren Bosheit im gesamten Viertel berüchtigt war, zu meiner Mutter sagte:
    »Du weißt, es ist nicht gut, dass dein Bruder jeden Abend bei euch vorbeikommt, wo doch deine Schwägerin bei euch wohnt und nicht einmal ein Tuch um den Kopf trägt; die Leute reden schon und erzählen sich seltsame Dinge; es ist nie gut, die Leute zu provozieren
- selbst wenn sie stumm ist, schließlich ist sie eine Frau.«
    »Aber was soll ich denn machen? Ich kann meinem Bruder doch nicht verbieten, mich zu besuchen; er lebt allein und hat sonst niemanden; was meine Schwägerin angeht, so habe ich sie seit meiner Hochzeit am Hals, aber ich kann von meinem Mann nicht verlangen, sie auf die Straße zu setzen. Jedenfalls sind die beiden nie allein, und mein Bruder kommt immer nur für ein paar Minuten vorbei, bevor er zu sich nach Hause geht.«
    »Doch, manchmal sind sie allein. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie dein Bruder mehrmals zu Mittag hierhergekommen ist, während du noch bei der Arbeit warst und dein Mann unterwegs war.«
    »Aber sie ist auch da«, wandte meine Mutter ein, den Blick auf mich gerichtet, »und außerdem, mal ganz ehrlich, kannst du dir vorstellen, dass mein junger attraktiver Bruder sich für ein altes stummes Mädchen interessiert, das sieben Jahre älter ist als er?«
    Ich war empört, sie so reden zu hören, aber ich hielt den Blick gesenkt und tat, als würde ich meine Hausaufgaben machen. Plötzlich schwiegen alle. Die Stumme stand im Raum, ein Tablett mit Tee in der Hand; sie stellte es neben meine Mutter auf den Boden,
nickte und ging auf den Hof. Die Frauen, meine Mutter inbegriffen, folgten ihr mit dem Blick.
    »Ich wiederhole nur, was ich im Viertel gehört habe. Außerdem weißt du genau, dass deine Schwägerin keinen guten Ruf hat; man braucht sie sich ja bloß anzusehen: Es wird schon stimmen, was die Leute reden, sagt man sich da. Und ein Mann ist nun einmal ein Mann, er hat sich nicht in der Gewalt, vor allem wenn eine Frau ohne Kopftuch ihm Avancen macht.«
    »Aber was soll ich denn machen?« fragte meine Mutter mit betrübter Miene.
    »Du könntest sie verheiraten, auf diese Weise wirst du sie auch gleich los.«
    »Aber wer will schon eine Stumme zur Frau?«
    »Ach weißt du, es gibt immer jemanden; schließlich ist eine Stumme besser als eine Frau, die den ganzen Tag zetert, und außerdem sieht sie ja nicht schlecht aus. Gut, sie ist nicht mehr blutjung, sie ist
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