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Die Straße in die Stadt

Die Straße in die Stadt

Titel: Die Straße in die Stadt
Autoren: Natalia Ginzburg
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erwiderte, ich solle besser schweigen, denn er kenne mich, und außerdem sei er nicht so dumm.
    Die Sirenen heulten, und Nini sagte, daß er zur Arbeit müsse. Er wollte, daß ich seine Jacke behalte, aber ich lehnte ab, weil ich Angst hatte, jemandem zu begegnen, und mir komisch vorkam mit dieser Männerjacke auf den Schultern. Wir verabschiedeten uns, und ich sagte zu ihm:
    »Oh, Nini, warum kommst du eigentlich nicht wieder nach Haus?«
    Daraufhin versprach er, mich am nächsten Tag zu besuchen, der ein Sonntag war. Und dann beugte er sich rasch hinunter und küßte mich auf die Wange. Ich blieb sitzen und sah ihm nach, während er, die beiden Hände in den Taschen, mit seinem ruhigen Schritt davonging. Ich war ganz verwundert, daß er mich geküßt hatte. Das hatte er noch nie getan. Sehr langsam machte ich mich auf den Weg und dachte dabei an viele Dinge, ein bißchen an Nini, der mich geküßt hatte, und ein bißchen an Giulio, der in der Stadt verlobt war und es vor mir geheimgehalten hatte, und ich dachte: ›Wie komisch die Leute sind. Man kapiert nie, was sie tun wollen.‹ Und dann dachte ich, daß ich zu Hause meinen Vater wiedersehen würde und daß er mich vielleicht wieder schlagen würde, und ich fühlte mich traurig.
    Doch mein Vater sagte kein einziges Wort zu mir und tat, als sei ich gar nicht da, und die anderen machten es genauso. Nur meine Mutter brachte mir Milchkaffee und fragte mich, wo ich gewesen war. Giulio sah ich nicht im Dorf, und ich wußte nicht, wo er war, ob auf der Jagd oder in der Stadt.
    Am nächsten Tag kam Nini ganz aufgeregt und zufrieden und sagte mir, daß er eine Stelle für mich gefunden habe, nicht in der Fabrik, weil sie dort sofort abgelehnt hatten, aber es gebe eine alte Frau, eine leicht verrückte Signora, die jemanden brauchte, der nachmittags mit ihr spazierenging. Ich müßte jeden Tag gleich nach dem Mittagessen in die Stadt kommen und würde abends nach Hause zurückkehren. Anfangs sei der Lohn karg und erlaube mir nicht, allein in der Stadt zu leben, aber später würden sie ihn sicher erhöhen, versprach Nini. Diese Signora war eine Bekannte von Antonietta, und sie hatte mich ihr empfohlen. An jenem Tag war niemand zu Hause, und ich und Nini blieben die ganze Zeit allein. Wir legten uns zum Reden unter die Pergola, und man konnte sich in Frieden unterhalten, als wären wir am Flußufer.
    »Aber am Fluß war es schöner«, sagte Nini zu mir, »komm wieder mal morgens an den Fluß, dann baden wir auch. Du weißt nicht, wie schön es ist, früh am Morgen zu baden. Es ist nicht kalt, und man fühlt sich wie neugeboren.«
    Doch ich fing wieder an zu fragen, in wen er verliebt sei.
    »Laß mich in Ruhe«, sagte er, »laß mich und quäle mich nicht heute, wo ich so froh bin.«
    »Sag’s mir, Nini«, sagte ich zu ihm, »sag’s mir, ich sag es auch niemandem weiter.«
    »Was kümmert’s dich«, sagte er zu mir. Und statt dessen begann er, mich zu ermahnen, ich solle mich gründlich waschen und ein dunkles Kleid anziehen, wenn ich zu der Alten ginge. Ich erwiderte, ein dunkles Kleid besäße ich nicht, und wenn so viel Aufwand nötig sei, vergehe mir sowieso die Lust hinzugehen. Da wurde er wütend und ließ mich allein, ohne sich von mir zu verabschieden.

 

     
     
-

    Z
    u der Alten ging ich in meinem üblichen hellblauen Kleid. Sie erwartete mich schon ausgehfertig, mit Hut und gepuderter Schnute. Ich solle mit ihr Spazierengehen und sie dabei angenehm unterhalten – so sagte ihre Tochter zu mir –, sie dann wieder nach Hause bringen und ihr aus der Zeitung vorlesen, bis sie schläfrig würde. Ihre Hand auf meinem Arm, trippelte ich los. Die Alte beklagte sich ständig. Sie sagte, ich sei zu groß, und es ermüde sie, sich bei mir einzuhängen. Sie sagte, ich liefe zu schnell. Sie hatte schreckliche Angst, die Straßen zu überqueren, fing an zu wimmern und zu zittern, daß sich alle umdrehten. Einmal begegneten wir Azalea. Sie wußte noch nicht, daß ich arbeitete, und blickte mich verwundert an.
    Nach dem Heimkommen trank die Alte eine Tasse Milch, wie es ältere Leute so machen. Ich las ihr unterdessen aus der Zeitung vor. Nach einer Weile begann sie einzunicken, und ich trottete davon. Aber ich war schlecht gelaunt und genoß die Stadt und ihre Geschäfte nicht. Eines Abends kam mir in den Sinn, den Nini vor der Fabrik abzuholen. Er entdeckte mich von weitem, und sein ganzes Gesicht belebte sich. Doch als er neben mir stand mit seinem alten, zu hellen
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