Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Straße in die Stadt

Die Straße in die Stadt

Titel: Die Straße in die Stadt
Autoren: Natalia Ginzburg
Vom Netzwerk:
wie eine Hexe, Mama«, sagte Azalea zu ihr, wenn sie nach Hause kam. »Warum läßt du dir kein Gebiß machen?« Dann legte sie sich auf das rote Sofa im Eßzimmer und sagte: »Kaffee.« Schnell trank sie den Kaffee, den meine Mutter ihr brachte, döste ein wenig und ging wieder. Meine Mutter sagte, Kinder seien wie Gift, und nie sollte man welche in die Welt setzen. Sie verbrachte die Tage damit, ihre Kinder eins nach dem anderen zu verfluchen.
    Als meine Mutter jung war, hatte sich ein Gerichtsschreiber in sie verliebt und sie nach Mailand mitgenommen. Meine Mutter war ein paar Tage dortgeblieben, dann aber zurückgekehrt. Immer wieder erzählte sie diese Geschichte, sagte aber, sie sei allein abgereist, weil sie der Kinder müde gewesen sei, und den Gerichtsschreiber hätten sie im Dorf erfunden. »Wäre ich bloß nie zurückgekommen«, sagte meine Mutter, während sie sich überall auf dem Gesicht mit den Fingern die Tränen trocknete. Meine Mutter tat nichts als reden, aber ich antwortete ihr nicht. Niemand antwortete ihr. Nur der Nini antwortete ihr manchmal. Er war anders als wir, obwohl wir zusammen aufgewachsen waren. Obwohl wir Cousins waren, sah er uns nicht ähnlich. Sein Gesicht war so blaß, daß es nicht einmal in der Sonne braun wurde, mit einem Haarschopf, der ihm über die Augen fiel. Er trug immer Zeitungen und Bücher in der Tasche und las ständig, er las auch beim Essen, und Giovanni klappte ihm das Buch zu, um ihn zu ärgern. Er schlug es wieder auf und las ruhig weiter, indem er sich mit den Fingern durch den Haarschopf fuhr. Das Grammophon wiederholte unterdessen:
     
    Samtweiche Händeee
    Duftende Händeee
     
    Die Kleinen spielten und prügelten sich, und meine Mutter kam und ohrfeigte sie, und danach legte sie sich mit mir an, weil ich auf dem Sofa saß, anstatt ihr beim Spülen zu helfen. Mein Vater sagte dann zu ihr, daß man mich besser hätte erziehen müssen. Meine Mutter fing an zu schluchzen und sagte, sie wäre für alle der Hund, und mein Vater nahm seinen Hut vom Kleiderständer und verließ das Haus. Mein Vater war Elektriker und Photograph und hatte gewollt, daß auch Giovanni Elektriker lernte. Aber Giovanni ging nie hin, wenn ihn jemand brauchte. Das Geld reichte nie, und mein Vater war immer müde und wütend. Er kam kurz heim und ging gleich wieder weg, weil das Haus ein Irrenhaus war, sagte er. Aber er sagte, es sei nicht unsere Schuld, daß wir so schlecht großgeworden waren. Schuld seien er und meine Mutter. Wenn man ihn so sah, wirkte mein Vater noch jung, und meine Mutter war eifersüchtig. Er wusch sich gründlich, bevor er sich anzog, und strich sich Brillantine ins Haar. Seinetwegen schämte ich mich nicht, wenn ich ihn in der Stadt traf. Auch der Nini fing an, sich mit Genuß zu waschen, und klaute meinem Vater die Brillantine. Aber es nützte nichts, der Haarschopf tanzte ihm trotzdem über den Augen.
    Einmal sagte Giovanni zu mir:
    »Der Nini trinkt Grappa.«
    Ich sah ihn erstaunt an.
    »Grappa? Wirklich immer?«
    »Sooft er kann«, erwiderte mein Bruder, »sooft er kann. Er hat auch eine Flasche mit heimgebracht. Die hält er versteckt. Aber ich habe sie gefunden, und er hat mich probieren lassen. Schmeckt gut«, sagte er zu mir.
    »Der Nini trinkt Grappa«, wiederholte ich innerlich voll Staunen. Ich ging zu Azalea. Sie war allein zu Haus. Saß am Küchentisch und aß einen Tomatensalat, mit Essig angemacht.
    »Der Nini trinkt Grappa«, sagte ich zu ihr.
    Gleichgültig zuckte sie die Achseln.
    »Irgendwas muß man ja tun, um sich nicht zu langweilen«, sagte sie.
    »Ja, man langweilt sich. Warum langweilt man sich so?« fragte ich.
    »Weil das Leben blöd ist«, sagte sie, während sie den Teller wegschob. »Was willst du machen? Man hat eben sofort alles satt.«
    »Warum langweilt man sich bloß immer so?« fragte ich den Nini abends auf dem Heimweg.
    »Wer langweilt sich denn? Ich langweile mich überhaupt nicht«, sagte er lachend und nahm meinen Arm. »Du langweilst dich also? Und warum? Alles ist so schön.«
    »Was ist schön?« fragte ich ihn.
    »Alles«, sagte er, »alles. Alles, was ich sehe, gefällt mir. Vorhin gefiel es mir, durch die Stadt zu bummeln, jetzt gehe ich über Land, und das gefällt mir auch.«
    Giovanni ging einige Schritte vor uns. Er blieb stehen und sagte:
    »Er arbeitet jetzt in der Fabrik.«
    »Ich lerne als Dreher«, sagte Nini, »so werde ich Geld verdienen. Ohne Geld kann ich nicht leben. Ich leide darunter. Es genügt mir,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher