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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände
Autoren: Heinz G. Konsalik
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den Bergen fielen oder die Sonne in den Scheiben glitzerte. Nur am Sonntag war es anders. Da blieb Marius im Bett liegen, spielte mit Svetlana und kam erst mit ihr heraus, wenn Corinna rief:
    »Ihr Faulpelze! Kommt zum Kaffee!«
    An diesem Sonntag regnete es. Die Blumen auf dem Tisch, schon zwei Tage alt, begannen zu verwelken. Corinna nahm sie aus der Vase, legte sie in der Küche auf das Ablaufbrett, spülte die Vase aus und füllte sie mit frischem Wasser. Dabei blickte sie aus dem Fenster in den Regen, es rauschte vom Himmel und trommelte gegen die Scheiben, und sie sagte sich, daß es bei diesem Wetter entschuldbar sei, wenn sie keine neuen Blumen pflückte. Sie wollte das Wasser schon wieder wegschütten und die alten Blumen in den Abfall werfen, als sie erschrocken und fassungslos sah, wie die Blumen, die eben noch die Köpfe hängen ließen, jetzt in ihren Händen aufrecht standen wie frisch geschnitten.
    Mit einem leisen Aufschrei ließ sie die Blumen fallen und prallte ein paar Schritte zurück. Nein! schrie es in ihr. Nein! O Gott im Himmel – nein! Nicht wieder! Nicht wieder … bitte, bitte, nicht wieder …! Sie starrte ihre Hände an, ging steif wie eine aufgezogene Puppe zum Küchenschrank, holte ein Glas heraus, stellte es auf die Spüle, spreizte die Finger – das Glas zersprang mit einem leisen, hellen, schwirrenden Laut.
    Der Aufschrei, der aus ihr herausbrach, war nicht mehr ihre Stimme. So schrecklich kann kein Mensch schreien. Sie schlenkerte ihre Hände durch die Luft, riß sie an den Mund, grub die Zähne in die Handfläche, biß in die Fingerspitzen, und als Marius entsetzt ins Zimmer stürzte, schrie sie, mit Wahnsinn in den Augen: »Hilf mir! Hilf mir! Nimm die Axt, schlag mir die Hände ab! Tue es, tu es doch … tu es für uns alle! Schlag mir die Hände ab. Ich will das nicht noch einmal! Nein! Nein! Hilf mir doch …«
    Bevor Marius sie auffangen konnte, stürzte sie in sich zusammen und fiel ohnmächtig auf die Dielen. Sie sah erschreckend aus, Schaum stand ihr vor dem Mund, und ihr ganzer Körper zuckte wie unter starken elektrischen Schlägen.
    Ebenso plötzlich war der Ausbruch vorbei … sie lag ganz still, auf der Seite, wie schlafend, und als Marius sie aufhob und ins Schlafzimmer trug, blieb sie noch immer ohnmächtig und atmete kaum.
    Mit einem Schweizer Himbeergeist – etwas Besseres fiel ihm nicht ein –, den er ihr durch die zusammengebissenen Zähne in den Mund träufelte, holte Marius sie nach einigen Minuten in die Gegenwart zurück. Sie schlug die Augen auf, sah ihn groß an und fragte:
    »Hast du das Glas gesehen? Die Blumen? Es … es ist wieder da … Warum ist es wieder da …?«
    »Ich verstehe gar nichts«, stotterte er. »Was ist denn passiert?«
    »Meine Hände … Es ist wieder in meinen Händen … Es ist alles wie vorher …«
    »Mein Gott. O mein Gott!« Er half ihr, vom Bett aufzustehen, führte sie, weil sie noch schwankte, vorsichtig zu einem Sessel und beobachtete sie, wie sie tief Atem holte. Ihr bleiches Gesicht bekam wieder etwas Farbe. Er war völlig hilflos, wußte keine Worte mehr und dachte immer nur: Wie ist das möglich? Wie wird das weitergehen? Fängt alles jetzt von vorn an? Wird sie die Menschen ansehen und sagen: Sie sind krank! Und wird sie dann wieder ihre Hände zu flachen Schalen formen und langsam über die Körper streicheln? O nein, nein – bloß das nicht wieder! Das einsame unbekannte Tal in den Schweizer Bergen würde sich mit Autokolonnen und Bussen füllen. Auf den Wiesen würden die Buden stehen. Aus dem schönen Häuschen würde eine Festung werden. Corinna … das ist ja wie ein Fluch!
    »Es soll niemand erfahren, Marius«, sagte sie, als sie wieder freier atmen konnte. »Niemand, auch Papa und Mamuschka nicht. Hörst du?«
    »Über meine Lippen wird kein Wort kommen. Wenn du dich bloß nicht selbst verrätst.«
    Sie schüttelte den Kopf, ließ die Arme über die Sessellehnen hängen und befeuchtete mit der Zunge ihre Lippen. »Ich habe einen merkwürdigen Geschmack im Mund.«
    »Himbeergeist. Ich hatte im Moment nichts anderes griffbereit. Soll ich dir einen Tee kochen?«
    »Ja, bitte, Liebling.«
    Marius rannte in die Küche. In der großen geschnitzten Holzwiege, die sie für Svetlana bei einem Schweizer Holzschnitzer gekauft hatten, rührte sich das Kind und begann leise zu quäken. Die Zeit des Sonntagsfrühstücks war längst vorbei, die innere Uhr der Kleinen signalisierte Unpünktlichkeit.
    Corinna stand auf,
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