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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände
Autoren: Heinz G. Konsalik
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drei Taxis, und der Fahrplan der Buslinie war so eingerichtet, daß dreimal am Tag ein Bus am Bahnhof stand, wenn der Zug aus Münster hielt.
    »Was hat der Arzt gesagt, Mama?« fragte Corinna, als sie am Wagen standen.
    »Später, mein Liebling!«
    »Warum später? Wenn du wüßtest, wie unruhig wir sind. Papa und ich.«
    »Es hat Zeit«, sagte Ljudmila und wartete, bis Corinna die Autotür geöffnet hatte. »Wenn Papuschka aus seiner Konferenz nach Hause kommt, erzähl ich euch alles. So müßte ich's ja zweimal tun.«
    »Nur eins, Mama: Ist alles in Ordnung?«
    »Später!« Sie stieg in den kleinen Wagen, rückte sich zurecht und wartete, bis Corinna neben ihr saß. Was soll ich ihr sagen, dachte sie und hoffte, daß nicht wieder die roten Flecken auf ihren Backenknochen erschienen. Es konnte sein, daß der Puder nicht mehr so gründlich deckte. Natürlich sind sie unruhig. Keiner ist gewöhnt, daß ich krank bin. Nie, in all den langen Jahren, haben sie Grund gehabt, sich um mich Sorgen zu machen. Nun ja, da waren die üblichen Sachen: eine Bronchitis, ein Schnupfen, eine Ischiasreizung, eine Nervenentzündung im linken Handgelenk, seit drei Jahren ab und zu Rheumaschmerzen in der rechten Schulter – aber länger als drei Tage hatte sie nie im Bett gelegen und dabei immer an Großvater Semjon Arkardjewitsch Assanurian gedacht: Man muß eine Krankheit mißachten! Bisher war das immer gelungen. Es gab da in ihr eine innere Kraft, an der jede Krankheit zerbrach. Bisher war sie immer stärker gewesen. Bisher …
    Corinna sah ihre Mutter von der Seite an, ohne den Wagen zu starten. Ljudmila tat, als merke sie es nicht und blickte aus dem Fenster, als betrachte sie die Landschaft zum erstenmal. Sie wandte auch nicht den Kopf, als Corinna sagte:
    »Mama, du hast in deinem ganzen Leben nie lügen können. Was ist los?«
    »Nun fahr schon!« Ljudmila nickte dem Fleischer Wittkopp zu, der seine Frau vom Zug aus Münster abgeholt hatte, und nun an ihrem Wagen vorbeiging. »Benimm dich nicht wie ein kleines Kind, du bist schließlich dreißig.«
    »Es ist also nicht alles in Ordnung, Mama?«
    »Es ist alles so, wie es sein soll.«
    »Das ist keine Antwort.«
    »Was willst du denn hören?«
    »Bist du krank, Mama, oder bist du nicht krank?«
    »Wenn du mich so fragst: Ich bin nicht krank.« Ljudmila zog die Bäckertüte auf ihren Schoß, beugte sich darüber und schnupperte. »Wie das duftet. Der Stuten ist noch warm. Es stimmt schon: das beste Brot gibt's bei Schmoldes. – Habt ihr Schinken geholt?«
    »Ja.« Corinna fuhr an. Bis nach Hellenbrand waren es nicht mal zehn Minuten, und bis zum Lehrerhaus genau zwölf Minuten vom Bahnhof aus, wenn man zügig durchfahren konnte. Die halbe Strecke über sprachen sie kein Wort mehr, saßen nebeneinander, starrten auf die Birkenallee, ließen sich vom Fleischer Wittkopp überholen – er hupte dabei und winkte wieder fröhlich zu ihnen herüber – und spürten, daß etwas Unerklärliches über ihnen lag. Plötzlich sagte Ljudmila, und ihre Stimme klang geradezu kindlich-verträumt:
    »Diese Birken! Bei Tante Dschuna waren sie genauso. So weiß, so hoch, so schlank, so schön. Tante Dschuna … ein Bauernhaus hatte sie bei Bosserow, in der Ukraine. War schon mehr ein Hof, ein Herrenhaus, wirklich. Zur Sowchose ›Aufbau‹ gehörte es, aber Tante Dschuna bewohnte es allein. Da war ich oft in den Schulferien. Habe Ziegen gehütet. Das war das herrlichste vom ganzen Urlaub, denn zu Hause, in Poti, bei meinem Papa, war ich die vornehme Doktortochter. War das schön, wenn ich im lichten Birkenwald saß, um mich herum die Ziegenherde …«
    Corinna bremste, bog von der Straße ab und hielt auf einem sandigen Querweg, der durch ein Lupinenfeld führte. Ljudmila umklammerte die Bäckertüte, als sei sie plötzlich ein Rettungsring geworden.
    »Warum hältst du?« fragte sie. »Warum biegst du ab? Ist was mit dem Auto?«
    »Mama, wir sind allein.« Corinna lehnte sich weit auf ihren Sitz zurück und blickte gegen den Autohimmel. »Ganz allein … Sag mir die Wahrheit, bitte!«
    »Dr. Willbreit hat mich gründlich untersucht. Und wie gründlich!« Sie lachte, aber es klang ein Unterton mit, den Corinna heraushörte. »Fünf Ärzte sind um mich herumgetanzt. Röntgen, EKG, Blutuntersuchung, Ultraschall, irgendsoetwas mit Radium haben sie mir eingespritzt und mich wieder geröntgt, von morgens um acht bis vorhin um drei.« Sie lehnte ebenfalls den Kopf zurück und schloß die Augen. Habe ich
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