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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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Ehrengäste für drei Stunden vor Beginn der Veranstaltung zitiert worden, um jedes auch noch so kleine Mißgeschick auszuschließen, denn wenn die Heilige Römisch-Katholische Kirche im Laufe derJahrhunderte eines gelernt hat, ist es, Feierlichkeiten aller Art mit dem entsprechenden Pomp zu ersinnen, zu organisieren und durchzuführen.
    Die alte Dame ist ganz in Schwarz gekleidet und trägt einen dezenten, aber hocheleganten Hut. Schmal und trotz ihrer siebenundachtzig Jahre kerzengerade wartet sie, bis ihr Sohn Marcel und ihre ehemalige Schwiegertochter Mertxe neben ihr stehen. Mit einer gewissen müden Herablassung überhört sie den Lärm, der von der zusammengedrängten Menschenmasse auf dem Platz herüberdringt. Rechtsanwalt Gasull bespricht mit dem Korporal, der hinter dem Bediensteten aufgetaucht ist, das weitere Vorgehen.
    »Wo ist Sergi.« Die alte Dame macht sich nicht die Mühe, fragend die Stimme zu heben. Sie blickt mit strenger Miene geradeaus.
    »Er ist hier, Mamà«, erwidert Marcel. »Wo soll er denn sonst sein?«
    Sergi ist ein paar Schritte beiseite getreten und hat sich eine Zigarette angezündet, denn er ahnt, daß er da drinnen eine Ewigkeit lang nicht wird rauchen dürfen.
    »Ich kann ihn nicht hören.«
    Weil du dir nicht die Mühe machst, deinen Enkel direkt anzusprechen, denkt Mertxe, die schon seit den frühen Morgenstunden mit unübersehbar sauertöpfischer Miene herumläuft. Aber du würdest natürlich niemals jemanden irgend etwas fragen und niemals den Kopf nach jemandem wenden, denn davon könnte dein Hals ja Falten bekommen, und außerdem haben sich die anderen gefälligst vor dir zu präsentieren.
    »Und?« wendet sich die Dame an Gasull.
    »Alles erledigt.«
    Drei Stunden vor Beginn der Zeremonie durchschreitet die fünfköpfige Gruppe mit der Kontrollnummer 35Z das Portal des Papstpalastes.
    Der Santa-Clara-Saal ist geräumig und von einem matten Licht erfüllt, das durch drei Balkontüren dringt, die auf einengroßen Innenhof hinausgehen. Soeben durchquert ihn raschen Schrittes ein Mann mit einer auffälligen gelben Schärpe; ihm eilt ein Mann in Alltagskleidung voraus, der mit halb erhobenem Arm auf eine Tür weist. Gegenüber den Balkontüren zeigt eine gewaltige dunkle Halbkugel, wie die Menschen des 17. Jahrhunderts sich die Erde vorstellten. Daneben steht ein Flügel, der in diesem Raum fehl am Platz wirkt, ein wenig befremdlich, wie alle stummen Musikinstrumente.
    Der Zeremonienmeister, ein spindeldürrer Mann, der genau wie die Dame ganz in Schwarz gekleidet ist, sicher ein Priester, murmelt, wohl wissend, daß sie sowieso kein Italienisch verstehen, sie dürften sich setzen, sie sollten sich wie zu Hause fühlen, er bitte nur um ein wenig Geduld und die Toilette befinde sich hinter der Tür neben dem Flügel. Noch während sie Platz nehmen, schiebt eine Nonne mittleren Alters einen Wagen mit Antipasti und nichtalkoholischen Getränken herein, und der Spindeldürre murmelt Gasull zu, eine Stunde vor der Feier wird der Wagen wieder abgeholt, Sie wissen schon warum.
    Die Dame nimmt in einem breiten Sessel Platz, die Beine dicht nebeneinander, den Blick auf das andere Ende des Saals gerichtet, als könnte sie sehen. Sie wartet darauf, daß die anderen es ihr gleichtun. Ihre innere Anspannung ist fast zuviel für ihren schwachen Körper, aber vor ihrem Sohn und ihrer Ex-Schwiegertochter, ihrem gleichgültigen Enkel, der durch die Balkontüren nach draußen starrt, und Rechtsanwalt Gasull läßt sie sich nicht anmerken, wie nervös, ja ängstlich sie ist in ihrem bequemen Sessel in dem geräumigen Santa-Clara-Saal im Palazzo Apostolico des Vatikans. Die Dame weiß, daß sie, wenn dieser Tag vorüber ist, in Frieden sterben kann. Sie legt ihre Hand an die Brust und tastet nach dem kleinen Kreuz, das sie um den Hals trägt. Sie weiß, daß heute der Gram der letzten sechzig Jahre ein Ende finden wird, und kann sich nicht eingestehen, daß sie in ihrem Leben vieles anders und besser hätte machen können.

1
    An dem Tag, an dem sein Name dem Vergessen anheimgegeben wurde, waren nur wenige Menschen auf der Straße. Es wären auch nicht mehr gewesen, wenn es nicht geregnet hätte, denn die meisten taten so, als ginge sie das Ganze nichts an, beobachteten das Geschehen heimlich vom Fenster oder vom Gartenzaun aus und dachten an das vergangene Leid. Der Bürgermeister hatte beschlossen, den Festakt durchzuziehen, selbst wenn es wie aus Kübeln goß, wobei er den wahren Grund für
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