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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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Weihnachten hatte machen wollen, allmählich kalt. Unmöglich, sich vorzustellen, daß in vier Tagen Weihnachten war, unmöglich, heute Cannelloni zu machen, denn beim Gedanken an diesen armen Jungen blieb einem jeder Bissen im Halse stecken.
    Oriol betrachtete einen Moment lang Rosas Nacken, dann schnitt er wütend das Brot in Scheiben und ging türenknallend hinaus, kam jedoch gleich darauf zurück, als habe er etwas vergessen. Er blieb reglos stehen, den Türgriff noch in der Hand, und bemühte sich, seinen Zorn zu bändigen. Rosa starrte weiter auf die Straße hinaus, ohne etwas zu sehen, weil das eindrucksvolle Panorama des Vall d’Àssua hinter ihren Tränen verschwamm. Oriol nahm seinen pelzgefütterten Mantel und die Mütze und ging wieder hinaus.
    Seit einem halben Jahr war Oriol jetzt Lehrer in Torena, und seither war er nicht wiederzuerkennen. Dabei waren sie bei ihrer Ankunft so glücklich gewesen! Sie hatte gerade erst festgestellt, daß sie schwanger war, und beide waren noch ganz überrascht, daß er, der wegen eines Magenleidens keinen Militärdienst geleistet hatte und nicht an der Front gewesen war, eine Stelle bekommen hatte. Sie hatten gedacht, alle Posten würden an Lehrer aus anderen Regionen Spaniens vergeben, an solche, die das Mitgliedsbuch der Falange vorweisen konnten oder sich dadurch auszeichneten, daß sie an der Seite des Mannes mit dem dünnen Oberlippenbart gegen die Republik gekämpft hatten. In ihrer Einfalt hatten sie nicht verstanden, daß niemand an die Schule von Torena wollte, nicht einmal Gott, der zwar in einem Stall geboren, aber immerhin in Nazareth zur Schule gegangen war, wo nicht nur Bauernkinder, sondern auch Söhne von Zimmerleuten unter den Schülern waren.
    Rosa starrte aus dem Fenster, ohne den Platz zu sehen. Es war Valentí Targa, der ihren Mann so verändert hatte, vom ersten Tag an, als er ihn mit Beschlag belegt und für sich gewonnen hatte. Vom ersten Augenblick an, als er auf dem Platz stand, die Arme in die Hüften gestemmt, und sie herausfordernd musterte, wie sie mit leuchtenden Augen aus dem Taxi stiegen, im Gepäck den großen Korb mit dem Geschirr und das sorgfältig verpackte Bild, das Oriol von ihr gemalt hatte. Sie hatte die Gefahr nicht kommen sehen, und nun wurde in Torena seit über vier Monaten Tag für Tag geschwiegen, darüber, daß von Zeit zu Zeit schwarze Wagen vorfuhren und weinende Männer zum Hang von Sebastià brachten, wo sie aussteigen mußten, und daß diese Männer anschließend auf Viehwagen abtransportiert wurden, zum Schweigen gebracht, ihre Tränen für immer versiegt. Und Valentí Targa hatte erreicht, daß auch Rosa den Mund hielt. Zu lange hatte sie geschwiegen, bis heute, als Oriol vom Rathaus zurückkehrte, wohin ihn dieser verdammte Targa zitiert hatte, und ohne ihr in die Augen zu sehen sagte, es wäre besser, wenn er in dieFalange einträte. Sie stand am Herd, starrte ihn sprachlos an, mit offenem Mund, und dachte erst, sie habe ihn vielleicht falsch verstanden oder er mache Scherze. Aber nein: Er wich auch weiterhin ihrem Blick aus und schwieg, wartete auf ihre Reaktion. Sie stellte die Cannelloni auf dem Untersetzer ab, ging mit ihrem schweren Bauch mühsam zum Schaukelstuhl hinüber, als wolle sie möglichst viel Abstand zwischen ihr Kind und ihren Mann legen, und fragte: »Was hast du gesagt?«
    »Du hast mich sehr wohl verstanden.«
    José Oriol Fontelles Grau. Er starb den Heldentod für Gott und Vaterland. Jetzt fiel Tina ein, wo sie den Namen schon einmal gesehen hatte. Vor einer Woche, als sie noch glücklich gewesen war, hatte sie die Friedhöfe von Vall d’Àssua fotografiert, denn ein Kapitel ihres Buches sollte von den Gräbern handeln. Im Vergleich zu den Friedhöfen anderer Dörfer hatte der Friedhof von Torena fünf Sterne verdient. Anstatt das Weitwinkelobjektiv zu benutzen, das alles verzerrte, trat sie zurück, um einen Gesamteindruck zu bekommen. Für die Mitte des Fotos wählte sie ein verfallenes Mahnmal, rechts und links gesäumt von Erdgräbern, von denen die meisten verrostete Eisenkreuze trugen, einige auch ein Marmorkreuz. Im Hintergrund, halb von dem Mahnmal verdeckt, eine weitere Gräberreihe vor der Mauer Richtung Norden, woher der Feind und der eisige Wind kamen. Das blitzblanke, gepflegte Mausoleum der Herrenfamilie lag zur Linken.
    Sie drückte auf den Auslöser. Ein Grünfink, der gerade zum Flug angesetzt hatte, blieb im Bild gefangen, mitten in der Luft, rechts von dem verfallenen
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