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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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seinen Anfall politischer Entschlossenheit verschwieg: Er war um zwei mit einem Kunden im Restaurant Rendé in Sort auf eine Paella verabredet, und allein bei dem Gedanken daran lief ihm schon jetzt das Wasser im Munde zusammen. Aber er war auch ein Bringué und wollte dem ganzen Dorf, einschließlich Casa Gravat, beweisen, daß diese Feier stattfinden würde, und wenn die Sintflut hereinbräche. So hatten sich zum Austausch der Straßenschilder der Bürgermeister, der Gemeinderat und der Sekretär eingefunden; zu ihnen hatten sich unaufgefordert zwei verirrte Touristen in leuchtend bunten Regenmänteln gesellt, die keine Ahnung hatten, worum es ging, aber unermüdlich die merkwürdigen Gebräuche der Gebirgler fotografierten, außerdem der unabkömmliche Steinmetz Serrallac und die Báscones vom Tabakladen, auch wenn niemand verstand, was um Himmels willen ausgerechnet sie bei diesem Festakt verloren hatte. Phrenokolopexie. Jaume Serrallac hatte die vier prächtigen Marmorplatten angefertigt, deren elegante Schriftzüge – schwarz auf hellgrauem Grund – vornehmere Straßen, besser erhaltene Wände und ein gepflegteres Dorf verdient hätten. Die Platte mit der Aufschrift Carrer President Francesc Macià ersetzte die Calle Generalísimo Franco,aus Calle José Antonio wurde Carrer Major, die Plaza de España hieß von nun an Plaça Major, und die Calle Falangista Fontelles wurde in Carrer del Mig umgetauft. Alles war vorbereitet, die Löcher waren schon gebohrt, und da Serrallac geübt war – seit mit dem Ende der Diktatur sämtliche Straßen umbenannt wurden, konnte er sich vor Aufträgen kaum retten –, lief alles wie am Schnürchen. Die Tafel des Falangisten Fontelles hielt so hartnäckig, daß Serrallac sie mit Hammerschlägen gegen die Wand zertrümmern mußte. Dann warf er die traurigen Überreste in die Mülltonne vor dem Haus der Familie Batalla. Der reglosen Gestalt unter dem Vordach von Casa Gravat war es, als stießen die Trümmer einen ohnmächtigen Schrei aus, und sie umklammerte das Geländer und stöhnte leise. Nur die Katzen bemerkten sie. Am oberen Ende der Straße standen, in ihre Mäntel gehüllt, zwei alte Frauen, eine von ihnen eine Greisin, und beobachteten den Festakt. Als sie sicher waren, daß Serrallac die alte Tafel zerschlagen hatte, gingen sie langsam, Arm in Arm, die Straße hinunter, die jetzt wieder Carrer del Mig hieß, betrachteten alle Fassaden, die Fenster, die Türen, und ließen ab und zu eine leise Bemerkung fallen, vielleicht um ihr Unbehagen darüber zu verhehlen, daß sie sich von zahlreichen Augen aus dem Inneren der Häuser verfolgt wußten, die die beiden alten Frauen ebenso ungestraft musterten, wie diese zuvor den Austausch des Straßenschildes überwacht hatten. Bei der Mülltonne angekommen, beugten sie sich darüber, als wollten sie sich vergewissern. Die Stadtväter waren schon im Aufbruch, gingen durch die Francesc Macià zur Plaça Major hinüber, wo der Austausch der letzten Tafel stattfinden und der Bürgermeister ein paar Worte über den Geist der Versöhnung sagen sollte, der in der Wiedereinführung der alten Straßennamen zum Ausdruck kam. In die kurze Straße kehrte wieder die gewohnte Ruhe ein, und von diesem Augenblick an war Oriol vergessen. Jedermann war froh darüber, daß nun endlich eines der Symbole der Zwietracht verschwunden war. Und außer der dunklen Gestalt, die sichunter dem Vordach von Casa Gravat die Brille abwischte und dachte, ihr werdet schon sehen, wer zuletzt lacht, erinnerte sich niemand mehr an Oriol Fontelles, bis vierundzwanzig Jahre später das verlassene, nutzlose Schulgebäude abgerissen wurde, weil es nicht in das Dorfbild des 21. Jahrhunderts paßte.
    Wie zu erwarten, beauftragte Maite, die Direktorin der Schule von Sort, Tina Bros damit, nach Torena hinaufzufahren und ganz offiziell in dem Gerümpel im alten Schulgebäude zu stöbern. Sie planten eine Ausstellung über den Wandel der Lehrmittel im Laufe der Zeit, und in diesem kleinen Gebäude gab es sicher einiges an antiquierten Unterrichtsmaterialien zu entdecken. Und da Tina an einem Fotoband über die Gegend arbeitete, wurde sie im Namen der Schule mit den Nachforschungen betraut. So kam es, daß Tina, die ganz andere Sorgen hatte, zum zweiten Mal innerhalb einer Woche mit ihrem auffälligen roten 2CV widerwillig nach Torena hinauffuhr. Sie konnte nicht ahnen, daß sie unterhalb der Marmorplatte parkte, mit der vierundzwanzig Jahre zuvor die Straße ihren
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