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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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Lampe.
    »Ich bin warm genug angezogen. Danke für die Lampe.«
    »Wenn Sie gehen, schließen Sie bitte ab und lassen Sie die Gaslampe an der Tür stehen. Wir finden sie morgen dann schon.«
    »Wie lange werden Sie denn brauchen, um das alles hier abzureißen?«
    »Morgen sind wir fertig. Das heute waren nur die Vorarbeiten. Das Gebäude ist schnell abgerissen.«
    Er tippte sich nach Soldatenart nachlässig mit dem Finger an die Schläfe. Dann schlug er die Tür hinter sich zu, und das Gespräch zwischen ihm und seinen beiden Kollegen hinter den schmutzigen Fensterscheiben verklang allmählich. Tina sah sich um. Das Licht der Campinggaslampe warf neue, fremde Schatten. Das Gebäude ist schnell abgerissen, dachte sie. Wie viele Generationen von Kindern hatten hier wohl lesen und schreiben gelernt? Und an einem Tag war alles weg.
    Als sie an das Pult zurückkehrte, stellte sie fest, daß der Bauarbeiter recht gehabt hatte: Dieses Klassenzimmer war ein Eisschrank. Und das Tageslicht schwand immer rascher. Sie stellte die Lampe auf den Tisch und dachte an den Piratenschatz. Stell dir vor, sie hätten die Schule abgerissen und die Juwelen wären noch darin gewesen, dachte sie. Sie löste die schwarze Schnur und schlug den Deckel auf: ein paar verblichene Schulhefte, blaßblau oder hellgrün, über die in schwarzen Druckbuchstaben quer das Wort Cuaderno gedruckt war. Kinderschulhefte. Zwei, drei, vier. Jammerschade, daß es keine Juwelen sind. Und prompt überkam sie wieder der stechende Schmerz.
    Sie schlug eines der Hefte auf. Sogleich fiel ihr die saubere, gleichmäßige, gut leserliche Schrift auf, die alle Seiten von oben bis unten bedeckte. Dazwischen in allen vier Heften immer mal wieder eine Zeichnung. Im ersten Heft war es ein Gesicht, ein bekümmert dreinblickender Mann. Darunter stand: ›Ich, Oriol Fontelles‹. Im zweiten Heft die Zeichnung eines Hauses, unter dem ›Casa Gravat‹ stand. Im dritten, mal sehen … eine Kirche. Die Kirche von Sant Pere de Torena. Und ein Cockerspaniel mit unendlich traurigen Augen, der der Unterschrift zufolge Aquil·les hieß. Und schließlich im letzten Heft die unfertige Skizze einer Frau, unzählige Male korrigiert und doch unvollständig, ohne Lippen und mit leeren Augenhöhlen, wie eine marmorne Friedhofsstatue. Siesetzte sich, ohne zu bemerken, daß in der Kälte ihr Atem zu weißem Nebel wurde. Oriol Fontelles. Wo hatte sie diesen Namen bloß schon mal gehört oder gesehen?
    Neugierig fing Tina Bros an zu lesen. Sie begann mit der ersten Seite des ersten Hefts, mit dem Satz: Geliebte Tochter, ich kenne nicht einmal Deinen Namen, aber ich weiß, daß es Dich gibt. Ich hoffe, daß jemand Dir diese Zeilen zukommen läßt, wenn Du groß bist, denn ich möchte, daß Du sie liest … Ich habe Angst vor dem, was sie Dir über mich erzählen könnten, vor allem Deine Mutter.
    Um halb neun abends, als das Licht der Gaslampe langsam schwächer wurde, hob sie plötzlich den Kopf und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie fröstelte. Es war eine Dummheit, so lange in diesem eiskalten Klassenraum sitzen zu bleiben. Sie klappte das letzte Heft zu und atmete langsam aus, als hätte sie während der gesamten Lektüre den Atem angehalten. Diese Hefte, beschloß sie, waren nichts für Maites Ausstellung. Sie legte sie in die Zigarrenkiste zurück, steckte diese in ihre große Anoraktasche und verließ die Schule, in der sie, wie ihr schien, Jahre verbracht hatte.
    Sie hinterließ die Lampe an der mit dem Bauarbeiter vereinbarten Stelle, gab den Schlüssel im Rathaus ab und ging zu der Marmorplatte mit der Aufschrift Carrer del Mig hinüber, wo ihr Citroën auf sie wartete, von einer feinen Schicht Neuschnee bedeckt.
    Die Straße nach Sort hinunter war kalt und einsam. Sie hatte sich nicht mit dem Anlegen der Schneeketten aufhalten wollen, und so fuhr sie langsam, in Gedanken versunken und wie erstarrt von der Kälte, von dem, was sie gelesen hatte, und von der Aussicht auf das, was ihr an diesem Abend noch bevorstand. Hinter der Kehre von Pendís, wo der Gemeindebezirk Torena endete, war auf die alte Rückhaltemauer ein Protest gegen die Abholzung weiterer Bäume zur Vergrößerung der Skipiste von Tuca Negra gesprüht. In der Schule war niemand mehr, und so stellte sie den Pappkartonin Maites Büro ab, legte eine kurze Notiz dazu und ergriff die Flucht, denn die dunklen, einsamen Korridore hatten ihr schon immer Angst eingejagt, und die Kälte ließ sie noch unheimlicher erscheinen. Der
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