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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses
Autoren: Jaume Cabré
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verschwinden und schloß das Fach. An der Wand stand ein kleiner roter Koffer. Er öffnete ihn. Reiseutensilien. Vorsichtig durchwühlte er ihn: nichts Interessantes. Er machte ihn zu und stellte ihn an dieselbe Stelle zurück. Bevor er ging, durchsuchte er sicherheitshalber noch alle Schubladen. Leere Blätter, Notizblöcke, Schulhefte. Und eine Schachtel. Er öffnete sie und fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß auf die Stirn trat. Vom anderen Ende der Wohnung her glaubte er ein schmerzliches Stöhnen zu hören.
    Als er die Wohnungstür hinter sich zuzog, war er sicher, keinerlei Spuren hinterlassen zu haben. Er wußte, daß er gut fünfzehn Minuten gebraucht hatte, um seinen Job zu erledigen, und daß er bei Tagesanbruch möglichst weit weg sein sollte.
    Sobald er allein war, schlich Juri ins dunkle Arbeitszimmer. Alles sah aus wie immer, aber er war beunruhigt. Er hatte das unbestimmte Gefühl, versagt zu haben.

Erster Teil
Der Flug des Grünfinken

Namen, hingestreckt und mit Blumen bedeckt
Joan Vinyoli

    Am Ostersonntag, dem 31. März Anno Domini 2002 um neun Uhr morgens, an diesem so lange ersehnten Tag, sind die Augen der zahlreichen auf dem Petersplatz versammelten Gläubigen aus aller Herren Ländern erwartungsvoll auf das damastgeschmückte Fenster gerichtet, von dem aus der Heilige Vater den Segen »urbi et orbi« erteilen wird. Obwohl es schon Frühling ist, ist es bitter kalt, denn vom Tiber dringt durch die Via della Conciliazione ein tückischer Luftzug herauf und fegt übermütig über den Platz, entschlossen, die Hingabe derer zu schmälern, die auf den Auftritt des Pontifex maximus warten. Rührung und Schnupfen sorgen für gezückte Taschentücher. Da geht das Balkonfenster auf, die Scheiben blitzen im Sonnenlicht. Ein beflissener Priester stellt das Mikrophon auf die richtige Höhe, und der gekrümmte, in makelloses Weiß gekleidete Johannes Paul II. spricht ein paar Worte, die unverständlich bleiben, obwohl die Leute aufgehört haben, sich zu schneuzen. Dann erfolgt der Segen. Sechs Nonnen aus Guinea, die auf dem feuchten Pflaster des Platzes knien, vergießen Freudentränen. Die von Hochwürden Rella angeführte Gruppe, die einen guten Platz direkt vor dem Fenster des Papstes ergattert hat, schweigt ein wenig unbehaglich angesichts einiger Gläubiger, die Rosenkränze schwenken, Papstbildchen küssen oder diesen Augenblick auf einem Foto verewigen. Sind diese Gefühlsausbrüche nicht doch etwas abergläubisch? Hochwürden Rella winkt ab, wie um zu sagen, was soll’s, und sieht auf die Uhr. Wenn sie in einer halben Stunde auf der Piazza del Sant’Uffizio sein wollen, müssen sie sich sputen. Also hebtHochwürden Rella, kaum daß der Papst nach Erteilung des Segens von seinen Ärzten vom Fenster fortgezogen wurde, den Arm, um die Richtung vorzugeben, und schickt sich an, sich mit Schlägen seines roten Regenschirms einen Weg durch die dichte Menge auf dem Platz vor dem Vatikan zu bahnen. In geschlossener Formation folgt die Gruppe von gut dreißig Frauen und Männern dem Regenschirm. Auch die anderen Leute setzen sich in Bewegung, langsam, als zögerten sie noch, diesen Ort zu verlassen, der ihnen so viel bedeutet.
    Durch die Via di Porta Angelica gleitet eine Limousine mit getönten Scheiben, biegt rechts ab und hält an dem Kontrollposten der Via del Belvedere. Zwei Männer mit Knopf im Ohr, Sonnenbrille und ausrasiertem Nacken beugen sich auf jeder Seite des Wagens zu den Fenstern hinunter, die mit der Eleganz eines berechnenden Augenaufschlags herabgelassen werden. Dann richten sich die beiden gleichzeitig wieder auf und winken den Wagen durch. Allerdings begleitet einer von ihnen die Limousine im Laufschritt noch bis zur Via della Posta und zeigt an, wo genau sie parken soll. Ein Bediensteter des Vatikans, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, öffnet die rechte Wagentür. Vor dem Portal des Palazzo Apostolico steht ein bunt gekleideter Schweizergardist, der seine Umgebung mit betonter Gleichgültigkeit ignoriert. Statt dessen starrt er geradeaus, zum Wachgebäude hinüber, als gäbe es dort etwas Interessantes zu entdecken. In der Tür der Limousine erscheinen zwei zierliche Füße in tiefschwarzen Schuhen mit silbernen Schnallen und werden vorsichtig auf den Boden gesetzt.
    Wie es dem Protokoll und der Bedeutung dieses Tages entspricht, wird im Petersdom in Anwesenheit der gesamten Kongregation für die Seligund Heiligsprechung eine Messe zelebriert werden. Vorsorglich sind alle
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