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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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tanzend bis zum Ende aller Zeit, unabhängig von allem, von jedem. Der Anblick war so verdammt schön, dass er am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
    Er ließ sich nach hinten sinken, bis die Welt auf dem Kopf stand und er in einem Meer aus Sternen schwamm. Dies war das Universum.
    Zuerst hörte er es nur. Es stieg aus dem Wasser empor. Auf drei Uhr ragte in etwa zehn Metern Entfernung ein Schemen aus dem Wasser. Er blinzelte und sah genauer hin, hob den Kopf, so hoch er nur konnte, und versuchte, sich umzudrehen und die Welt wieder aus der richtigen Perspektive zu betrachten. Vielleicht war es ein Fisch. Ein Wal oder ein Delfin. Smudge und ihre Seeungeheuer kamen ihm wieder in den Sinn. Möglicherweise war es ein Ungeheuer, das ihn verschlingen wollte. O Smudge . Doch zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass es ein Mensch war. Staunend sah er zu, wie die Gestalt mit langsamen Brustzügen auf ihn zugeschwommen kam. Sie schien ungewöhnlich hoch im Wasser zu schweben. Wie um alles in der Welt hatten sie ihn gefunden?
    Als Erstes erkannte er den Stoff. Den alten Häkelponcho, dessen Löcher so groß waren, dass er und Rob die Arme hindurchstrecken und so tun konnten, als wären sie in einem Netz gefangene Fische. In diesem Augenblick begriff er, wen er vor sich hatte. Sein Herz machte einen Satz wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dies war der endgültige Beweis, dass er noch nicht tot war. Sie schwamm weiter auf ihn zu, mit gleichmäßigen, zügigen Bewegungen, das breit lächelnde Gesicht vom silbrigen Mondschein erhellt.
    »Mum!«, rief er, während er spürte, wie ihn die köstliche Wärme mütterlicher Liebe erfüllte.
    Ihre Augen schimmerten im Mondlicht, und als sie nahe genug herangekommen war, tauchte sie unter und glitt mit der Behändigkeit und Eleganz eines Otters auf den Fender. Sie war leicht außer Atem. Wasser lief über ihr bleiches Gesicht. Er sah ihr in die Augen, die grün waren, mit einem dichten Kranz dunkler Wimpern, genauso wie seine eigenen. Sie war ihm so vertraut, als würde er in sein eigenes Gesicht blicken.
    »Mum«, sagte er, überwältigt vor Glück.
    Sie lachte und beugte sich vor, sodass ihr nackter Ellbogen unter dem spinnennetzartigen Häkelgewebe seine Haut streifte.
    »Hallo Jonty«, sagte sie und küsste seine Hand. Ihre Lippen fühlten sich kühl auf seiner Haut an, während er regelrecht glühte. Am liebsten hätte er sich die Kleider vom Leib gerissen, doch er brachte die Kraft dafür nicht auf.
    »O Mum«, krächzte er mit belegter Stimme. Tränen standen in ihren Augen, und das Mondlicht tanzte darin. »Wie hast du mich hier gefunden?«
    »Nichts wird uns jemals trennen«, sagte sie und strich mit ihren kühlen Fingern über seine Wange. »Du bist aus meinem Bauch gekommen.«
    »Stimmt ja«, erwiderte er verblüfft. »Ich wurde mit der Glückshaube geboren, stimmt’s?«
    Sie nickte und lächelte.
    »Aber wie kann ich dann ertrinken?«, fragte er, während ihm wieder bewusst wurde, wie entsetzlich verkehrt alles war.
    »Du darfst nicht aufgeben«, antwortete sie. Inzwischen liefen ihr die Tränen ungehindert übers Gesicht, rund und glitzernd wie winzige Monde.
    »Aber ich habe längst aufgegeben, Mum. Deshalb bin ich doch hier«, stieß er erstickt hervor, denn auch er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ich habe sie verloren.«
    Sie legte den Arm um ihn. Er bettete seinen Kopf an ihre Schulter und weinte leise. »Shhh«, machte sie und strich ihm durchs Haar. Er spürte die Kühle ihrer Handfläche auf seiner Stirn, die Festigkeit ihrer Ringe. »Alles wird wieder gut.«
    Aber ich will nicht, dass alles wieder gut wird , dachte er. Doch er war so müde, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte. Er spürte, wie sie ihn von sich schob und ihm einen Finger unters Kinn legte.
    »Du darfst nicht schlafen, Jonty, Schatz«, sagte sie.
    Er versuchte, sich auf ihre Züge zu konzentrieren, und stellte fest, dass er den Schwung ihrer Brauen und die kleine Sommersprosse auf ihrer Stirn vergessen hatte. Aber es nützte nichts. Seine Lider waren schwer wie Blei, und er war trunken vor Müdigkeit.
    Er schlief ein.
    Im ersten Moment hörte sich die Musik gar nicht wie Musik an. Der Ort, an dem er sich befand, war so weit entfernt, so jenseits jeglicher Sinneswahrnehmung, ein behagliches Wurmloch, das ihn verschlungen hatte, dass er eine halbe Ewigkeit brauchte, um zu registrieren, dass die Musik kein Teil von ihm selbst war, sondern etwas Eigenständiges. Etwas,
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