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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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den Blick über das knappe Dutzend Häuser am Fuß des Hügels schweifen. Die Musik drang aus einem der Häuser näher am Wasser, vielleicht aus einer Bar. Ganz in der Nähe quakte ein einzelner Frosch, was bedeutete, dass es irgendwo einen Tümpel geben musste, doch er konnte ihn nirgends entdecken. In diesem Moment stimmten seine Artgenossen ein. Er hatte noch nie ein solches Froschorchester gehört. Das Gequake war ohrenbetäubend. Er blickte auf Smudge hinab, die trotz des Lärms friedlich schlief, die puttengleichen Lippen leicht geöffnet. Er ging weiter.
    Die Kirche war ein kleines Gebäude mit einem Rundbogen und einem Glockenturm auf dem Dach, dessen rostiger Klöppel über seinem Kopf baumelte. Die Tür war angelehnt und gab ein lautes Quietschen von sich, als er sie aufschob und eintrat. Das Innere war schlicht und funktional, mit einem Jesus Christus am Kreuz über der Kanzel und etwa zehn hölzernen Bankreihen. Das Mondlicht schien durch das Bogenfenster im hinteren Teil des Kirchenschiffs, sodass Christus’ Schatten auf den steinernen Boden fiel. Seine linke Hand befand sich nur wenige Zentimeter von Johnnys Turnschuh entfernt. Er sah sich genau um, versuchte, sich sämtliche Details einzuprägen. Er wusste zwar nicht, weshalb, doch aus irgendeinem Grund erschien es ihm wichtig. Dann drehte er sich abrupt um und ging wieder hinaus. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig nahm er die Tasche von seiner Schulter, stellte sie auf dem Boden ab und zog den Reißverschluss ein Stück auf, um Gilla fester unter Smudges Arm zu schieben.
    Dann beugte er sich vor, küsste ihre weiche Wange und drückte ein letztes Mal ihre kleine Hand. Ein unterdrücktes Schluchzen drang aus seiner Kehle. »Gott, du elender Mistkerl«, sagte er. »Wenn du so etwas wie Gnade kennst, dann kümmere dich um sie.«
    Er wandte sich ab und stahl sich davon, ohne sich noch einmal umzudrehen, heilfroh, dass sie nicht aufgewacht war und nach ihm gerufen hatte. Er lief zum Strand, schob das Boot ins Wasser und paddelte zu dem namenlosen Schiff zurück. Er zerrte das Schlauchboot an Deck, lichtete den Anker, setzte das Hauptsegel und fuhr davon. Er brachte es nicht über sich, noch einmal zur Insel zu blicken; er wollte nicht wissen, wo er sich befand, auf welcher Insel, in welcher Bucht er gewesen war. Es spielte keine Rolle mehr, war nicht mehr wichtig. Nichts war mehr wichtig. Das letzte Band zur Welt war gekappt und er nichts als ein Geist, körperlos und ohne Ziel.
    Er segelte ins Nichts hinaus, in die Nacht, und blieb erst stehen, als die Sonne auf- und wieder untergegangen und noch einmal den Himmel überquert und wieder verschwunden war und er sicher sein konnte, dass es keine Chance auf Rettung für ihn gab.

ertrinken

    Bestimmt gab es viel schlimmere Arten, den Tod zu finden. Was er tat, fühlte sich unglaublich gut an. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Er hätte nie gedacht, dass Sterben so friedlich sein könnte. Weshalb bloß machten alle so ein Theater darum? Der Tod hatte eine reichlich miese PR. Dabei war er doch eine Zuflucht der Müden, ein Ruhekissen am Ende eines anstrengenden Tages. Und nun konnte er dieses Kissen spüren; es war so dick und flauschig und behaglich. All der Schmerz in seinem Innern war verebbt. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Er war frei.
    Die Wasseroberfläche glitzerte silbern und schwarz im Mondschein. Die Wellen glätteten sich ein wenig, wurden wieder zu seinen Freunden. Ihm war gar nicht aufgefallen, wann die Schmerzen aufgehört hatten. Wahrscheinlich war er mit dem Sterben viel zu beschäftigt gewesen, um es zu merken. Aber es konnte nicht mehr lange dauern; es fühlte sich an, als würde er bereits seit Tagen ertrinken. Er wünschte, er könnte sich einfach im Wasser umdrehen, mit dem Gesicht nach unten, und untergehen. Doch selbst das schien zu anstrengend zu sein. Er wandte den Kopf ein kleines Stück – oder vielleicht bildete er es sich auch nur ein – und sah zum Mond hinauf, der so hell und wunderschön über ihm schien, dass er die Augen zusammenkneifen musste. Seine salzverkrusteten Lippen rissen ein, als er lächelte. Allem Anschein nach hatte er sich wieder umgedreht, denn nun lag er auf dem Rücken und blickte zu den Sternen hinauf. Ihr Anblick, so strahlend hell und funkelnd auf der endlosen Decke des Firmaments, raubte ihm den Atem: Der Oriongürtel, der nach Westen zeigte, der Große Wagen, der Polarstern, Beteigeuze. Alle waren da, funkelnd und
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