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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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ertrinken

    Johnny stürzte sich mit bemerkenswerter Entschlossenheit auf die Aufgabe, Selbstmord zu begehen. Als er ganz sicher war, dass die See nur ihm allein gehörte und jeder Zipfel Land so weit entfernt war, dass selbst Seevögel vor Erschöpfung vom Himmel fielen und an Bord verendeten, löste er die Hände vom Ruder, woraufhin sich das Boot in den Wind drehte. Er starrte auf die endlosen, im Schein einer unheilvollen Dämmerung rötlich schimmernden Wellen hinaus, während die Segel über ihm heftig im Wind flatterten. Doch er bemerkte das Getöse gar nicht. Nach einer halben Ewigkeit hob er den Kopf und blickte zu den schlackernden Segeln empor, mit Augen, in denen längst kein Leben mehr war. Düster grünlich glommen sie in seinem dunklen, wettergegerbten Gesicht, das ihn viel älter aussehen ließ, als er in Wirklichkeit war.
    Er stand auf, holte die Großschot ein und trat auf das Deck, um das schwere Großsegel herabzulassen und zusammenzulegen. Mit methodischer Präzision verknotete er jeden einzelnen Segeleinbinder. Es kostete ihn keinerlei Mühe, sich auf dem heftig schwankenden Deck zu bewegen, während ihm die rosafarbenen Sprenkel aus dem dunklen Wasser zuzuzwinkern schienen. Als das Segel ordentlich verschnürt war, kehrte er ins Cockpit zurück und verschwand unter Deck.
    In der Kabine herrschte das blanke Chaos: Überall standen Essensreste herum, Kleidungsstücke waren verstreut, Tassen und Gläser, leere Verpackungen und Plastikfolien, allesamt sichtbare Beweise dafür, dass sich mehrere Menschen an Bord aufgehalten hatten. Er fragte sich, wieso ihm nicht schon früher aufgefallen war, wie es hier aussah. In der Sperrholztrennwand zwischen der Bordküche und dem Wohnbereich prangte eine große Delle, an deren Entstehung er sich nur vage erinnerte. Er durchquerte den Raum, hob hier und da Unrat auf und warf ihn in die Mülltüten, die er in den Fächern unter den Sitzen verstaute. Er räumte die Regale leer und steckte Bücher sowie anderen Krimskrams in seinen alten Schlafsack, den er ebenfalls in einen Schrank stopfte.
    Das einzig wirklich Schöne an Bord war der Sextant aus Messing. Er wog ihn in der Hand. Inzwischen war er lediglich ein Relikt, genauso wie er selbst. Er erklomm die Kajütenleiter und trat ans Heck, um in Richtung der aufgehenden Sonne zu blicken, die gefährlich tief über dem Horizont hing – ein dicker rosafarbener Ballon, der scheinbar unbeeindruckt seinen Weg fortsetzte. Er schleuderte den Sextanten aufs Meer hinaus. Das rote Sonnenlicht spiegelte sich im Messing, während er durch die Luft segelte. Er sah nicht hin, als er platschend im Wasser landete, sondern wandte sich um und kehrte in die Kajüte zurück, um sein Werk zu Ende zu bringen.
    Als sämtliche Töpfe und Pfannen in Schränken verstaut, Kissen in Spalten gestopft und alle anderen Gegenstände aufgeräumt waren, erhaschte er einen Blick auf sein Gesicht im Badezimmerspiegel. Verblüfft sah er sich an: Er trug einen schwarzen Anzug und eine Fliege, als käme er geradewegs von einer Nobelparty. Er war so hager, dass Jackett und Hose an ihm schlotterten, doch diese Kleidung war ebenso gut zum Sterben geeignet wie jede andere. Er schlüpfte aus den Turnschuhen und durchquerte die Kajüte, dann blieb er stehen, holte tief Luft und blickte hinaus – wie immer befand sich sein Körper in perfektem Einklang mit den unsteten Bewegungen des Boots. Es war, als würde er instinktiv das Schlagen und Mahlen der Wellen erahnen, als wären die Muskeln seines Körpers dem Puls der Natur stets einen Schlag voraus. Lediglich seine Augen waren reglos, sein Blick auf einen fernen Punkt am Horizont gerichtet.
    Er zog eine Schublade auf und nahm das große Küchenmesser heraus. Es hatte ihm bereits auf vielfältige Art und Weise gedient, doch nun hatte es nur noch eine einzige Aufgabe zu erfüllen. Dafür musste es jedoch sehr scharf sein. Er holte den Wetzstahl hervor, setzte sich auf die Kombüsentreppe und schärfte es mehrere Minuten lang mit aller gebotenen Sorgfalt, während er zusah, wie sich die rosafarbene Sonne auf dem funkelnden Stahl spiegelte.
    Nach einer Weile stand er auf, durchquerte die Kabine und trat in die Toilette. Er ging auf die Knie und senkte den Kopf wie zum Gebet, voller Abscheu über die Schwäche seines Körpers – er zitterte am ganzen Leib. Dann holte er ein weiteres Mal tief Luft, hob das Messer und schnitt entschlossen die inneren und äußeren Leitungen durch. Augenblicklich begann das
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