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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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skandinavische Ketsche aus Holz, die übers Wasser flitzte und deren Segel im Sonnenschein strahlten. Als sie den Kurs erneut änderte und in südliche Richtung fuhr, glaubte er einen Mann in einem roten Pullover am Ruder auszumachen. Das Boot würde seitlich an ihm vorbeifahren, doch da die Sonne hinter ihm stand, bestand durchaus die Gefahr, dass der Mann den leblosen Körper im Wasser übersah.
    Ich bin hier. Ich bin hier. Mehr tot als lebendig. Aber ich bin hier.
    Das Letzte, was er sah, ehe er erneut das Bewusstsein verlor, war der elegante Backbordbug, der nicht einmal fünfzig Meter neben ihm das Wasser durchschnitt, so dicht, dass er sogar ihren Namen erkennen konnte: The Lady Marian. Und irgendwo in seinem von der Kälte starren Körper lachte und weinte er. Und spürte so etwas wie Glauben aufflackern. Lady Marian.
    Obwohl er keinen Muskel bewegen konnte, sein Auge sich weigerte, sich noch einmal zu öffnen, und kein Atemzug mehr in seinem Leib war, spürte er etwas in seinem Innern. Als würden sich Hände um sein Herz legen, sein Innerstes öffnen wie die Blütenblätter einer Blume und seine Seele nach außen kehren. Ein Gefühl der Liebe und des Friedens und der Vergebung durchströmte ihn, und er war von einem Leuchten erfüllt, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Jegliche Angst war mit einem Mal verschwunden. Und nun, da die Angst in ihm getilgt war, blieb nichts als reine Liebe übrig – eine allumfassende Liebe, unverbrämt und urteilslos. Es gab keine Bedingungen, keine Grenzen, keine Hindernisse. Sie schien aus ihm herauszufließen, über die Menschheit und alle Geschöpfe dieser Erde hinweg. Es gab kein Richtig und kein Falsch mehr, keine Sünder und Verbrecher. Er dachte an Frank und Annie, und seine Liebe umschloss auch sie. Smudge und Clem, seine Mutter, sie alle umspülte seine Liebe. Sie alle waren in Sicherheit, keinem würde etwas geschehen, solange seine Liebe weiterlebte. Sämtliche Grenzen waren aufgehoben. Inzwischen begriff er, dass es keine Rolle spielte, ob er tot oder am Leben war, denn Leben und Sterben waren in Wahrheit ein und dasselbe.

epilog
    Stu war der Skipper. Er war Ire mit sandfarbenem Haar, ein hervorragender Segler und echtes Sprachtalent. Er badete nur selten und hatte schon oft ganze Ozeane überquert, ohne auch nur ein einziges Mal die Kleider zu wechseln, was ihm allerdings massive Hautprobleme eingebracht hatte. Sein erster Maat war ein Spanier namens Emilio. Sie arbeiteten für einen Franzosen, der auf Jachtüberführungen spezialisiert war und seine Geschäfte von einer Bar in Bermuda aus betrieb. Zusammen hatten sie eine ganze Menge Boote überführt, durch alle möglichen Meere und unter allen erdenklichen Witterungsverhältnissen. Dies war ihre achtzehnte gemeinsame Fahrt. Ihr Boss wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte und dass sie das Boot pünktlich und mit einem Minimum an Beschädigung seinem neuen Besitzer überbringen würden. Bei der Mehrzahl handelte es sich um gewöhnliche Charterboote, aber mit der Lady Marian hatten sie einen wahren Glücksgriff getan: Sie war eine sechzehn Meter lange skandinavische, doppelendige Holzketsche, die sich traumhaft segeln ließ und sogar über einen hochmodernen Autopiloten verfügte. Sie gehörte einem reichen Rennfahrer aus Deutschland, der sie im Lauf der nächsten Woche auf Kreta erwartete, wo er seinen Urlaub verbringen wollte.
    Wegen des schlechten Wetters waren sie später in Narbonne aufgebrochen als vorgesehen. Da der Sturm keine Anstalten gemacht hatte, nachzulassen, und der Mistral, der von den Pyrenäen herunterwehte, ein höchst unangenehmer Zeitgenosse war, hatten sie letzten Endes bei Windstärke neun lossegeln müssen. Deshalb lagen sie leicht hinter ihrem Zeitplan, als sie das Tyrrhenische Meer erreichten.
    In Bonifacio, an der Südküste Korsikas, hatten sie einen Stopp eingelegt und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Stu, der den Gegenwert seines eigenen Körpergewichts in Alkohol in sich hineingeschüttet hatte, war von der Hafenpolizei aus dem Jachthafen geschleift worden, wohingegen Emilio noch nicht einmal mehr den Weg zurück aufs Boot gefunden hatte.
    Emilio war ein paar Jahre jünger als Stu und ein völlig anderes Kaliber. Er hatte dieselbe Schwäche für die Damenwelt wie Stu, mit dem Unterschied, dass die Damenwelt auch eine Schwäche für ihn hatte. Sie standen auf sein Aussehen, auf die Art, wie er tanzte und wie er roch, so frisch wie eine morgendliche Brise. Stu
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