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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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hielt es sich vor die Augen. »Eine Schildkröte, vielleicht?«, meinte er und reichte das Fernglas an Emilio weiter, der ebenfalls hindurchsah.
    Aber eine Schildkröte war es nicht, das konnte Emilio sich nicht vorstellen. Er stellte sich etwas breitbeiniger hin, um eine bessere Balance zu haben.
    »Joder!«, sagte er, ließ das Fernglas sinken und blickte mit zusammengekniffenen Augen hinaus. »Los, wirf den Motor an.«
    Stu beugte sich vor, startete den Motor und griff nach dem Steuer, woraufhin das Boot wendete und auf das Ding im Wasser zuhielt.
    Als sie näher kamen, erkannten sie, womit sie es zu tun hatten – ein auf einen Fender geschnallter Mann, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Er rührte sich nicht. Emilio stand mit dem Bootshaken in der Hand an der Reling, verhakte ihn in der Hose des Kerls und zog ihn heran.
    Stu kam übers Deck gelaufen. Die beiden Männer legten sich auf den Bauch, um die vollgesogene Leiche an Bord zu hieven, und zerrten sie mit dem Gesicht nach unten aufs Deck. Es handelte sich um einen Mann, dessen steifen Arme ein Stück Teppich umklammert hielten.
    Emilio drehte die Leiche auf den Rücken und wich beim Anblick des leblosen Gesichts erschrocken zurück.
    »Heilige Mutter Gottes«, stieß Stu hervor und bekreuzigte sich. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein Ausdruck, wie er ihn noch nie an einem Menschen gesehen hatte – als wäre ein süß schlafender Engel geradewegs vom Himmel auf die Erde gefallen. Auf seinen bläulich verfärbten Zügen lag ein verzücktes Lächeln, als wäre er in einem wunderschönen Traum verloren. Eine Aura des Friedens und der Ruhe umgab ihn.
    Auch Emilio bekreuzigte sich und starrte ihn fassungslos an. »Ist er tot?«
    »Ich schätze schon.«
    Stu ging auf die Knie, packte den kalten, gräulich verfärbten Arm des Jungen beim Handgelenk und fühlte nach einem Puls. »Heilige Scheiße, der ist ja noch grün hinter den Ohren«, sagte er. Er konnte keinen Herzschlag mehr spüren. Stu sah auf und schüttelte den Kopf.
    Emilio beugte sich vor, presste die Lippen auf die lächelnden Lippen des Jungen und hielt ihm die eisig blaue Nase zu, um ihn Mund zu Mund zu beatmen.
    Währenddessen begann Stu, die Brust des Jungen mit pumpenden Bewegungen zu bearbeiten. Eins zwei drei vier. Eins zwei drei vier. Nichts geschah. Er hielt inne und sah Emilio wortlos an. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie hoben die Leiche hoch, wobei ein Schwall Wasser aus den Kleidern auf das Deck platschte. Erst jetzt bemerkten sie, dass er einen schwarzen Anzug und eine Fliege trug. Er musste von einem Kreuzfahrtschiff gefallen sein. Sie trugen ihn quer über das Deck, den Niedergang hinunter in die Kabine, wo Stu mit dem Ellbogen den Tisch leer fegte, damit sie ihn hinlegen konnten. Sie schnitten das Fenderseil und den kleinen Teppich ab und rissen ihm die klatschnassen Kleider vom Leib, unter denen ein magerer, eiskalter, bleicher Jungenkörper zum Vorschein kam. Seine Hände, Lippen und Füße wiesen eine leuchtend blaue Farbe auf, was darauf schließen ließ, dass er noch am Leben sein könnte. Stu stürzte durch die Kabine und kehrte mit einem Arm voller Decken und Handtücher zurück.
    »Los, komm schon, Junge …«, sagte er und hüllte den nackten Jungen in die Decken, während Emilio heißes Wasser in Flaschen füllte und darunterschob, um ihn zu wärmen. Wieder setzte Emilio zur Mund-zu-Mund-Beatmung an, während Stu sein Herz in Gang zu bringen versuchte, trotzdem war kein Lebenszeichen zu erkennen.
    Nach einer scheinbaren Ewigkeit hielten sie inne, ließen sich neben dem toten Jungen auf die Sitze fallen und sahen einander an, zutiefst schockiert über das, was das Meer angespült hatte. Stu streckte die Hand aus und nahm die Rumflasche aus dem Regal hinter ihnen, schraubte sie auf und nahm einen kräftigen Zug. Dann beugte er sich vor, ließ etwas davon in den Mund des toten Jungen sickern und sah zu, wie es an seinem Kinn herunterlief.
    »Hätte ich ihn doch nur früher gesehen«, sagte Emilio, griff über den Jungen hinweg und nahm Stu die Flasche aus der Hand.
    »Armer Bursche.« Stu zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die feinen Züge des Jungen. »Sieh ihn dir bloß an. Wieso ist der bloß so scheißglücklich?«
    Emilio schüttelte den Kopf. »Was machen wir jetzt mit ihm? Ihn wieder reinwerfen?«
    Stu zuckte die Achseln und nickte.
    In diesem Moment begann der tote Junge zu husten und zu spucken. Die beiden Männer sprangen auf und starrten ihn
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