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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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Wasser hereinzuströmen. Nun gab es kein Zurück mehr. Langsam erhob er sich, den Blick auf die Leitungen geheftet, aus denen das Wasser rauschte. Er spürte die Kälte des Meerwassers an seinen Füßen. Es strömte über den Boden, während das Boot weiter auf den Wellen tanzte. Wie gebannt sah er das Wasser ansteigen, über seine Zehen und seine Füße hinweg und bis zur Türschwelle, ehe es in die angrenzende Kabine schwappte. Er wandte sich um, watete hinaus und kehrte an seinen Platz auf der Kajütentreppe zurück – unbeteiligt und fasziniert zugleich, als das Wasser geräuschvoll in die Kabine flutete, bis in den hintersten Winkel drang und alles umspülte, was herumstand. Es stieg immer weiter, an Tischbeinen empor, inzwischen nahezu lautlos. Er saß reglos da, in der Gewissheit, dass er als Nächstes an der Reihe war. Bald würde das Wasser auch ihn verschlucken.
    Als ihm das Wasser bis zu den Knien reichte, erhob er sich. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, trieb umher: die Klobürste ebenso wie der Salz- und Pfefferstreuer, aus dem Vorschiff wurde ein schmales Armbändchen angeschwemmt. Er betrachtete die kleinen Delfinsymbole auf dem durchsichtigen Plastik, sah zu, wie sie fröhlich über den Kartentisch hinweghüpften. Er machte kehrt, erklomm die Treppe und blickte aufs Meer hinaus – dreihundertsechzig Grad blankes Nichts. Er sah zum hellblauen Morgenhimmel hinauf und spürte das Blut geräuschvoll durch seine Venen pulsieren – was für eine Ironie, sich ausgerechnet jetzt lebendiger zu fühlen als seit einer halben Ewigkeit, so als wollte ihm das Leben aus blanker Gehässigkeit zeigen, dass es noch nicht vorüber war. Wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte er vielleicht geweint, doch seine Augen blieben trocken. Er hatte keine Tränen mehr.
    Es dauerte nicht lange, bis der Unrat den Niedergang heraufspülte, und kurz darauf spürte er, wie das Heck zuerst langsam, dann immer stärker nach unten gezogen wurde. Johnny trat hinaus auf das Spiegelheck und ließ sich ins Wasser gleiten. Im ersten Moment schnürte ihm die Kälte die Luft ab und bohrte sich wie Nadeln in seine Haut. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen. Er trat mit den Beinen und schwamm ein paar Züge vom Boot weg. Er wollte nicht auf diese Weise abtreten, gemeinsam mit ihr und ihrer schmutzigen Ladung in die Tiefe gezogen werden. Er drehte sich um, spürte, wie sich seine Kleider vollsogen und ihn nach unten zogen. Sein Blick fiel auf die Stelle am Heck, wo er ihren Namen überpinselt hatte – ein völlig sinnloses Unterfangen, als könnte man die geschwungenen Buchstaben einfach auslöschen: The Little Utopia. Plötzlich senkte sich der Bug abrupt, als würde der Sog zu stark, um sich ihm noch länger zu entziehen, woraufhin der Mast nach vorn kippte und sich ihm vorwurfsvoll entgegenneigte. Strampelnd sah er zu, wie sie zu sinken begann, und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Eiskaltes Meerwasser drang ihm in Mund und Ohren. Er blinzelte. Um ihn herum war alles in tiefes Blau getaucht. Sie hing da, nach Backbord geneigt, den Bauch nach oben. Er tauchte wieder auf, um Atem zu schöpfen. Sie hatten beinahe etwas Anmutiges, ihre letzten Augenblicke im Leben. Ihre Nase war stolz gen Himmel gereckt, ein letztes jähes Aufbäumen vor dem endgültigen Untergang. Dann glitt sie geräuschlos in die Tiefe.
    Alles, was von ihr übrig blieb, war eine Blasenspur und ein sanfter Sog an seinen Beinen. Er holte abermals Luft und tauchte unter, um ihr nachzusehen, bis sie zu einem dunklen Schatten verblasste, das tiefe Blau in tintige Schwärze umschlug und sie vollends aus seinem Blickfeld verschwand. Er tauchte auf und schnappte nach Luft. Vereinzelte Schaumkrönchen waren das Einzige, was noch an sie erinnerte. Zwei große Blasen, wie Rülpser aus den Tiefen des Meeres, stiegen lautstark empor, dann herrschte Stille – nur er und die Gewissheit, dass ihm nur wenige Minuten blieben, ehe auch er endgültig verschwunden wäre.
    Er hörte seine scharfen Atemzüge, als die Wellen ihn wie ein Stück Treibholz hin und her warfen. Vielleicht wäre es ja klüger gewesen, sich Gewichte umzuschnallen oder sich an den Mast zu binden, doch allein die Vorstellung, auf immer und ewig mit diesem Boot verbunden zu sein, war so abscheulich, dass er froh war, gar nicht erst auf die Idee gekommen zu sein. Es würde bestimmt nicht lange dauern, denn er hatte sämtliche Aspirin geschluckt, die er im Medizinschränkchen gefunden hatte. Schon bald würde
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