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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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er einfach eindösen. Er schloss die Augen, ließ den Kopf nach hinten sinken und streckte sich aus, bot seinen Körper dem Himmel dar.
    Inzwischen fror er nicht länger. Sein Körper fühlte sich ungewohnt schwerelos an. Er spürte förmlich, wie das Wasser zu seinem Verbündeten wurde. Es trug ihn mit sich, umschmeichelte und liebkoste ihn, so beruhigend wie ein lindernder Balsam. Er ließ sich von den Wellen tragen, wie eine Schildkröte, die auf der Oberfläche trieb; seine weit ausgebreiteten Arme und Beine schienen eins mit dem Wasser zu werden, zu einer formlosen, untrennbaren Einheit zu verschmelzen. Die Wärme der Sonne, die Wärme seines Körpers, alles verschwamm ineinander. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so eins mit seiner Umgebung gewesen zu sein. Mit einer Ausnahme: seine Verbundenheit mit ihr , natürlich.
    Er musste eingenickt sein, dann als er das nächste Mal die Augen aufschlug, stand die Sonne bereits tief am Himmel, und er hatte vergessen, dass er mitten im Mittelmeer ertrank. Einen Moment lang glaubte er, er läge in einer Düne oder im Garten hinter dem Haus und eine kühle Brise hätte ihn aus seinem Nickerchen geweckt. Er blickte zum Himmel empor, durch das Blau hindurch in die schwarze Endlosigkeit, die sich dahinter erstreckte. Viele tausend Meter über ihm war der weiße Kondensstreifen eines Flugzeugs auszumachen. Er dachte an all die Menschen dort oben, die unterwegs nach irgendwohin waren, Sandwichverpackungen aufrissen, Sitze hochklappten, raschelnd ihre Zeitung lasen, dösten, mit den Gedanken bei ihren bevorstehenden Meetings und Geschäften, allesamt am Leben, ohne etwas von seiner winzigen Existenz hier unten zu ahnen. Viel zu schnell verflog der dünne Streifen im Blau des Himmels, und eine tiefe, unerträgliche Einsamkeit ergriff Besitz von ihm.
    Er klammerte sich an all seine positiven Gedanken, an jenes wunderbare Gefühl, eins mit seiner Umgebung zu sein, doch stattdessen empfand er nichts als eine tief sitzende Angst. Sein Körper hatte jeden Anflug von Schwerelosigkeit verloren; sein vollgesogener Anzug zog ihn in die Tiefe. Selbst die Elemente hatten sich gegen ihn verschworen: Die Wellen peitschten über ihn hinweg, sodass er husten musste, die Kälte des Wassers stach auf seiner Haut, und die dahinziehenden Wolken raubten der Sonne ihre wärmende Kraft. Auch die Sonne selbst ließ ihn im Stich – er sah zu, wie der glühend orangefarbene Feuerball hinter dem Horizont zu versinken drohte. Er hob den Kopf. Rings um ihn herum herrschte gähnende Leere. Weit und breit nichts und niemand, der ihm beim Sterben Gesellschaft leisten könnte. Und schon bald würde es dunkel werden. Irgendwo in den Tiefen seines Innern stieg Panik auf: Das Bewusstsein um die Bedeutungslosigkeit und die Winzigkeit der Existenz konnten jemandem, der nicht sterben wollte, durchaus Angst einjagen. So hatte er sich all das nicht vorgestellt. Stattdessen hatte er geglaubt, dass Ertrinken ein rascher Tod sei. Doch die Schuldigen verdienen den Luxus eines leichten Todes nicht, so viel stand fest. Er hätte sich wohl doch an den Mast binden und mit ihr in der endlosen Tiefe versinken sollen, wo er hingehörte.
    Er blickte auf seine Hände, die grünlich im Wasser schimmerten. Sein Hals fühlte sich ganz wund an, und seine Lippen waren rissig. Ein Schmerz zuckte durch seine Körpermitte. Er musste dringend pinkeln, sah sich jedoch nicht dazu imstande. Sein Bauch war völlig verkrampft. Schließlich spürte er die Wärme seines Urins, der an seinen Schenkeln hinablief. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie unfassbar kalt ihm mittlerweile war. Im Osten zog bereits die Dämmerung auf, außerdem hatte der Wind aufgefrischt, sodass es aussah, als würde eine Horde Schimmel übers Wasser galoppieren.
    Etwas stach ihm ins Auge. Im ersten Moment hielt er es für den hellen Rumpf eines Frachters. Instinktiv begannen sich seine Arme und Beine zu bewegen, doch dann hielt er inne. Was ging ihn dieses merkwürdige Ding da draußen an? Was auch immer es sein mochte, es hatte denselben Kurs wie er und tanzte ebenfalls auf den Wellen. Als das Ding näher herantrieb, erkannte er, dass er seine Größe völlig falsch eingeschätzt hatte. Es war kein Schiff. Sondern ein Fender. Ein weißer Fender. Er erkannte ihn auf Anhieb. Offenbar stammte er von dem gesunkenen Schiff. Nun waren sie schon zu zweit – zwei einsam Dahintreibende in der nassen Unendlichkeit.
    Er trat vorsichtig mit den Beinen, doch seine Glieder waren
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