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Herzen aus Gold: Roman (German Edition)

Herzen aus Gold: Roman (German Edition)

Titel: Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
Autoren: Fiona McIntosh
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I
     
    Sonntag, 19 . Oktober 1919
     
    Trotz des schneidenden Windes an einem spätherbstlichen Morgen in Cornwall spürte Jack Bryant in seinem Inneren eine noch viel eisigere Kälte. Sie war durch seine dicke Jacke und sein zweitbestes Hemd gedrungen und kroch ihm jetzt langsam den Rücken hinauf, während man ihn höchst unsanft in die Hütte auf der Anhöhe über der kleinen Stadt Newlyn beförderte.
    Die Hütte, die früher von den ansässigen kornischen Fischern genutzt worden war, stand jetzt leer. Jack erinnerte sich daran, wie er als kleiner Junge die Männer von ebenjener Anhöhe bei der Arbeit beobachtet hatte. Wenn einer von ihnen die herannahenden Fischschwärme gesichtet hatte, stießen sie alle in die rund eineinhalb Meter langen Sprachrohre. Dann ging die Jagd mit den Booten los. Sie kreisten ihren Fang langsam ein; bis zu drei Millionen Sardinen, wenn es ein großer Schwarm war. Jack fand ihre Arbeit faszinierend, schließlich hatte er das Meer schon immer geliebt und sich oft gewünscht, als Sohn eines Fischers geboren worden zu sein – ein unerfüllbarer Traum. Stattdessen verdiente er sich nun seinen Lebensunterhalt mit dem Zinnabbau tief im Bauch der Erde Cornwalls. Die Zinnminen waren jedoch dem Untergang geweiht; der Erste Weltkrieg hatte sie noch mit der Lieferung von Wolfram am Laufen gehalten, doch jetzt hatte ihnen der Friedensschluss den Todesstoß versetzt.
    Cornwall verlor immer mehr Männer. Vor allem die jungen, die ihre Heimat auf der Suche nach einem neuen Leben verließen. Von Land’s End bis zur Halbinsel Lizard hatte es an der zerklüfteten Küste einst von Männern, Frauen und Kindern gewimmelt, die gestrandete Schiffe plünderten, gelegentlich hatte man sogar den verschrobenen Geistlichen dabei beobachtet.
    Jetzt jedoch war Cornwall ein Land voller Löcher. Über Tage erhoben sich große Maschinenhäuser aus Granitgestein. Sie schützten die neuen Fördermaschinen, die einen Mann in tausend Meter Tiefe befördern oder das abgebaute Erz an die Oberfläche holen konnten. Hohe, elegante Schornsteine ragten in die Luft, Feuersäulen kennzeichneten die Stellen, wo Tausende von Männern weit unterhalb des Meeresspiegels arbeiteten, sich tief in den britischen Boden hineingruben, der ihnen jedoch nur ein mageres Auskommen gewährte, während die Grubenbesitzer fette Gewinne einstrichen.
    Der junge Jack Bryant litt nicht dieselbe Not wie seine Arbeitskollegen, denn seine Familie galt nach den Maßstäben der Bergleute als wohlhabend. Deshalb war es auch geradezu lächerlich, dass er jetzt hier zwischen zwei Schlägern stand und eine Schuld, die er mit Leichtigkeit hätte vermeiden können, wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf hing.
    Die schrillen, einsamen Schreie der Möwen, die über seinem Kopf kreisten, rissen Jack aus seinen Gedanken und holten ihn in seine gegenwärtige, höchst unangenehme Situation zurück. Er blinzelte. Vor seinen Augen tanzten Sonnenflecken. Die Männer schoben ihn noch weiter ins Hütteninnere hinein. Ihr Gesichtsausdruck war so hart wie der Granit, aus dem die Hütte gebaut war, ihr Griff um seine Arme nicht minder fest. Es war jedoch nicht die Grobheit der Männer, die ihm Angst machte, auch nicht ihr grimmiges Schweigen – daran hatte er sich gewöhnt, das war immer so, wenn Walter Rally kam, um sein Geld einzutreiben. Nein, die Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, nachdem man ihn auf der Market Jew Street in Rallys großes schwarzes Auto gestoßen hatte und ihm bewusst wurde, dass man ihn nicht zum Büro des Buchmachers in Truro brachte, sondern an diesen entlegenen, verlassenen Ort hoch oben auf dem Hügel, ein, zwei Meilen von Penzance entfernt.
    Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, packte ihn eine noch größere Angst, ausgelöst durch den Anblick des zitternden, fast nackten Mannes, der mitten in der Hütte auf einen hölzernen Stuhl gebunden war. Wegen der Unruhe, die Jacks Ankunft mit sich brachte, hob der Gefangene den Kopf und begann etwas zu stammeln. Jack erkannte ihn, verstand aber kein Wort von dem, was er sagte. Er hörte, wie ihm das Blut in den Ohren rauschte, dazu eine Stimme, die dem Barit on seines Vaters ähnelte und von derselben müden Enttäuschung erfüllt war.
    »Hallo, Jack«, sagte die Stimme. Ihr Besitzer trat aus der Dunkelheit hervor.
    »Walter, ich …«
    »Spar dir deine Worte, Junge«, erwiderte der Mann. »Ich muss dir sagen, dass mich dein Hochmut sehr verärgert hat. Ich finde, du bringst mir nicht
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