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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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Topf auf die schwächelnde Gasflamme.
    Dann durchquerte er die Kabine, wo Smudge sich die völlig verdreckten Sachen auszog, und ging ins Badezimmer. Neben dem Waschbecken lag eine Haarbürste. Auf dem Spiegel klebten winzige Blutstropfen. Annies Blut. Er kratzte sie mit dem Fingernagel ab und blickte entsetzt in das Gesicht des Fremden, der ihm entgegensah: ein mageres, ausgezehrtes Wrack mit einer so grimmigen Miene, dass es kein Wunder war, wenn Smudge sich vor ihm fürchtete.
    Schließlich trat er ins Vorschiff, beugte sich über die Seitenteile des Bettes und öffnete einen der Schränke. Er nahm eine Handvoll Kleider für Smudge heraus und kehrte mit den Sachen und der Haarbürste in der Hand in die Kajüte zurück. Smudge wehrte sich, als er versuchte, ihr die Haare auszubürsten, also zog er ihr stattdessen ihre alte Wollmütze über den Kopf und säuberte ihr mit einem Lappen das Gesicht. Es stellte sich heraus, dass es sich bei ihrer Sonnenbräune größtenteils um Schmutz handelte. Nach und nach kamen ihre Sommersprossen unter der Dreckschicht zum Vorschein wie die ersten Sterne nach Einbruch der Dunkelheit. Die ganze Zeit über sah sie ihn aus ihren großen, glitzernden Augen an.
    »Hallo Johnny«, sagte sie leise, und er spürte ein vertrautes Ziehen im Herzen.
    Er versuchte, zu lächeln, doch seine Gesichtsmuskeln fühlten sich ganz starr an, so als hätte er sie lange Zeit nicht mehr bewegt. »Es tut mir so leid«, sagte er.
    »Was tut dir leid?«, fragte sie und wischte ihm die Tränen ab, während er den Schmutzrand an ihrem Hals abrubbelte. »Wieso machst du mich sauber?«
    »Du kannst doch keine Dinnerparty feiern, wenn du wie ein Ferkel aussiehst.«
    »Aber du siehst auch wie ein Ferkel aus.«
    »Stimmt«, bestätigte er. »Du hast recht. Soll ich mich rasieren?«
    »Daddy hat einen Anzug. Den könntest du anziehen.«
    »Ehrlich?«
    »Ja. Den hatte er bei der Queen an.«
    Johnny nickte. »Tatsächlich?« Er kniff sie in die Wange. »Tja, was gut genug für einen Besuch bei der Queen ist, sollte auch für dich angemessen sein … Ich werde ihn anziehen.«
    Er kehrte ins Badezimmer zurück, um sich zu rasieren. Währenddessen hörte er, wie sie mit großer Sorgfalt summend ihre Sachen durchging. Er konnte über ihre Fähigkeit, selbst unter diesen Umständen noch glücklich zu sein, über diese Unverwüstlichkeit ihrer kindlichen Seele, nur staunen. Immerhin hatte auch sie alles verloren. Er sah, wie sie ihren blauweiß gestreiften Schlafanzug herausnahm, ihn verkehrt herum anzog und ins Cockpit hinaufging, um dort auf ihn zu warten.
    Glatt rasiert und deutlich bleicher am Kinn und an den Wangen, öffnete Johnny Franks Spind und nahm den schwarzen, knittrigen Anzug heraus. Er zog ein weißes Hemd an, band sich eine Fliege um und betrachtete sich im Spiegel. Die Fliege saß schief. Er sah absolut lächerlich aus, so als wollte er heiraten oder so was. Er schlug die Hosenbeine und die Ärmel um und zurrte die Hose mit einem Gürtel fest, ehe er in seine alten Turnschuhe schlüpfte. Doch er war so lange barfuß gelaufen, dass es sich seltsam anfühlte, plötzlich wieder Schuhe an den Füßen zu haben.
    »Okay, Mylady«, sagte er zu Smudge, als er die Nudeln in den Topf gab. »Vor dem Essen müssen wir noch einen Toast ausbringen.«
    Das Spiel machte ihr sichtlich Spaß; aber vielleicht lag es auch nur an der Aufmerksamkeit, die sie zur Abwechslung wieder einmal bekam. Ungeduldig baumelte sie mit ihren schmutzverkrusteten Beinen, während sie auf ihn wartete. Im Verbandskasten fand er die Flasche mit der rosa Kindermedizin. Er nahm sie heraus und trug sie mit zwei Gläsern und einer Flasche Wein nach draußen. Sie lachte vor Verzückung auf, als sie ihn in seiner Verkleidung sah. Er lauschte ihrem gackernden Gelächter, das er schon so lange nicht mehr gehört hatte. Sie ist fünf Jahre alt, Herrgott noch mal. Fünf Jahre , dachte er.
    Er stellte die Gläser zwischen ihnen auf den Sitz und gab einen Schluck Paracetamol für sie und ein Glas Wein für sich selbst hinein, dann stießen sie an. Ihm fiel auf, dass sie den kleinen Finger dabei leicht abspreizte – eine perfekte Imitation der Gesten ihrer Mutter.
    »Auf dich, Smudge!«, erklärte er mit belegter Stimme, dann kippten sie beide ihren Drink hinunter. Er schenkte nach und wiederholte den Toast mehrere Male, bis das Medizinfläschchen fast leer war und er sicher sein konnte, dass es reichen würde. Er sah zu, wie sie schweigend ihre Nudeln
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