Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
aufgefallen war, als sie ihm am Nachmittag auf dem Steg entgegengekommen war: Sein Herz war nicht länger ein Teil von ihr. Das war der Grund, weshalb sie ihn geküsst hatte. Es war ein Abschiedskuss gewesen. Er nahm das Herz heraus und strich mit dem Finger über die glatte Oberfläche, so wie damals am Strand, als er sich in sie verliebt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass unter den Muschelschalen noch etwas anderes lag. Ein kleiner Zettel. Er faltete ihn auseinander. »Ich kann nicht mehr, J. Vielleicht wirst du mir ja eines Tages verzeihen, eines Tages, wenn alle Sterne am Himmel verglüht sind.«
    Tränen stiegen ihm in die Augen. Ganz langsam legte er die Streichholzschachtel auf den Tisch zurück. Dann stand er auf, wandte sich um und öffnete die Schublade des Kartentischs. Wenigstens hatte sie ein wenig Bargeld mitgenommen. Ihr Pass fehlte ebenfalls. Er schloss die Schublade, ging die Kombüsentreppe hinauf und trat ins Cockpit. Einen Moment lang dachte er, die Sonne hätte sich selbst aus dem Orbit katapultiert – er hatte gar nicht mitbekommen, dass es dunkel geworden war. Es erschien ihm völlig normal, dass die Zeit zum Stillstand gekommen zu sein schien. Schließlich gab es keinen Grund mehr, weshalb die Erde sich noch weiter drehen sollte. Seine Beine gaben unter ihm nach. Kraftlos sank er auf die Knie, inmitten der Bonbonpapierchen, während seine Seele, sein Lebensmut, seine gesamte Existenz zerbrachen.

9 das ende

    Die Seele des Menschen ist dazu verdammt, zu überleben. Nach einer Weile – er wusste nicht, ob Tage oder Wochen vergangen waren – musste er aus der Koje aufgestanden sein. Er musste aufgehört haben, die gelbe Blume auf dem Kissenbezug anzustarren, und wieder an die Arbeit gegangen sein, denn die Insel lag hinter ihnen, der Wind trieb sie weiter nach Westen, und die Sonne ging auf und wieder unter, als wäre alles genauso wie früher. Tagsüber sah er teilnahmslos zu, wie sie über den Himmel zog, während die Sterne nachts wie gewohnt das Firmament mit falschen Hoffnungen sprenkelten. Tage vergingen, ohne Sinn, ohne Bedeutung. Der Alkohol war sein einziger Freund. Er trank, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.
    Er hatte keine Ahnung, welcher Monat war. August, vielleicht auch September. Es war ihm auch egal. Er sah andere Boote mit Tagesausflüglern. Manche davon segelten dicht an ihm vorbei, und er registrierte verwirrt ihre lächelnden Gesichter und ihre erhobenen Arme, wenn sie ihm zuwinkten. Er fragte sich, was sie sehen mochten. In diesen Momenten fiel ihm Smudge wieder ein, doch auch sie war eine Fremde geworden. Ihre Haut hatte die Farbe einer Walnuss, ihr einst dunkles Haar war von hellen Strähnen durchzogen. Er wusste, dass er nicht imstande war, sich um sich selbst zu kümmern, von ihr ganz zu schweigen. Offen gestanden, war ihm auch das gleichgültig. Wo einst ein leidenschaftliches, sensibles Herz geschlagen hatte, war nun nichts mehr, nur unendliche Taubheit. Er sah zu, wie sie aß, wie sie Dosen öffnete, mit dem Finger ins Marmeladenglas fuhr, Krümel vom Boden aufklaubte, die letzten Rest aus alten Saftkartons quetschte, mit der hohlen Hand Milchpulver aus dem Glas schaufelte und sich in den Mund schob, sodass ihr Gesicht über und über mit weißem Puder bedeckt war. Manchmal saß sie mit ihrem Speer in der Hand am Bug und starrte aufs Meer hinaus. Vermutlich wirkte sie in diesen Momenten genauso wild und verrückt wie er, doch er empfand bei ihrem Anblick nichts. Manchmal ertappte er sie dabei, wie sie ihn ansah, und ein- oder zweimal glaubte er, ihre Stimme zu hören, die ihm Worte ins Ohr flüsterte oder ihm etwas vorsang. Doch im Großen und Ganzen ließ sie ihn zufrieden, sodass er kaum etwas von ihr mitbekam. Er wusste, dass er sie mit seinem wirren Gemurmel verängstigte. Die meiste Zeit über schimpfte und wetterte er über Frank und Annie, stieß laute, wilde Flüche und Schwüre aus, oder über Clem, weil sie ihn im Stich gelassen hatte. Er war voller Hass und Selbstverachtung.
    Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er mit all der Liebe anfangen sollte, die noch immer in ihm war. Er konnte nicht länger um sie weinen, seine Sehnsucht nach ihr war zu überwältigend, um ihr mit Tränen gerecht zu werden. Wieder und wieder, bestimmt hundertmal am Tag, traf ihn die Tatsache, dass sie nicht länger bei ihm war, wie ein Keulenschlag. Nichts hatte mehr einen Sinn. Und nichts würde jemals wieder einen Sinn haben. Er hielt den Blick eisern auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher