Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Alicia - Gefaehrtin der Nacht

Titel: Alicia - Gefaehrtin der Nacht
Autoren: Kerstin Michelsen
Vom Netzwerk:
Prolog
    Es ist d iese fein geschwungene Linie, der ich nicht widerstehen kann. Dort, wo der Hals eine natürliche Kurve beschreibt, kurz vor dem Übergang in die Schulter. Die Stelle ist stets auf die gleiche Weise betörend, ganz egal ob bei Mann oder Frau, Jung oder Alt, Hell oder Dunkel.
    Manchmal zöger e ich es ein wenig hinaus, um den Genuss zu steigern. Zuerst umfassen meine Lippen das Fleisch und ich erspüre die Textur der Haut mit der Zunge: Ist sie straff oder welk, süß oder eher salzig, verschwitzt oder trocken? Dann erst schlage ich die Zähne hinein und trinke den ersten Schluck des berauschenden roten Saftes.
    Mein früheres Ich würde vermutlich sagen, dass das, was ich tue, falsch ist, doch dieses Ich gibt es nicht mehr, und ebenso wenig gibt es noch die Begriffe schlecht oder gut . Ist die Katze schlecht, weil sie den Vogel tötet, oder der Löwe, weil er die Gazelle reißt? Niemand würde das behaupten. Man mag es bedauern, um des lieblichen Vögleins oder der graziösen Gazelle willen, aber niemand würde der Katze oder dem Löwen vorwerfen, dass sie tun, was sie tun. Es ist ihre Natur, so sagt man dann, und nur der Mensch, der aus niederen Gründen tötet, wird als schlecht bezeichnet. Darum bin ich ebenso wenig schlecht wie irgendein Raubtier, denn auch ich folge nur meiner Natur. Außerdem, meistens töten wir nicht. Wir brauchen nur das Blut, euer Blut.
    Wir tun also das, was wir tun, nicht aus Bosheit oder Niedertracht, sondern weil dies unserer Natur entspricht. Am Tage ruhen wir und in der Nacht durchstreifen wir die Straßen dieser Stadt, deren Name ich nicht nennen darf. Es ist wichtig, im Verborgenen zu bleiben.
    I ch bin nicht immer die gewesen, die ich nun bin, aber ich blicke ohne Bedauern zurück: Auf eine vierunddreißigjährige Karrierefrau namens Isabel, auch Isa genannt, die täglich bis zu fünfzehn Stunden in der Devisenabteilung einer namhaften Bank zubrachte, die über kein nennenswertes Privatleben verfügte, sich dafür in ihrem Job immerhin auf der Überholspur befand. Sie hätte sicher noch Großes erreichen können in eurer Welt. Nur eines hatte sie dabei vergessen: Sie spürte weder das Leben noch wusste sie, was es bedeutete, wahrhaftig frei zu sein.

1. Kapitel
    «Verdammt, Lena, was soll das heißen, du hast Max eingeladen?»
    «Ich hab e ihn nicht eingeladen, oder jedenfalls nicht direkt. Hauke und ich sind ihm neulich über den Weg gelaufen, und dann hat sich das irgendwie so ergeben. Es ist ja nur der Polterabend, du meine Güte, Isa. Eure Trennung ist über ein Jahr her. Ach, wenn ich gewusst hätte, dass es dir so viel ausmacht …»
    «Schon gut», sagte ich und biss mir auf die Lippen. Ich konnte einfach nicht fassen, dass sie das getan hatte. Meine beste Freundin würde heiraten, in drei Tagen war der Polterabend, und jetzt erfuhr ich so nebenbei, dass ich dort meinem Ex begegnen sollte. In den vergangenen zwölf Monaten hatte ich einige Anstrengungen unternommen, um genau dies zu vermeiden. Und Lena wusste das doch ganz genau!
    «Das ist noch nicht alles, fürchte ich», sagte Lena. «Äh, also … er kommt nicht allein.»
    «Wer kommt nicht allein?»
    «Na, wer wohl?»
    «Das ist doch nicht dein Ernst. Doch nicht etwa…»
    «Doch», kam es zerknirscht aus dem Hörer, doch für meinen Geschmack noch lange nicht zerknirscht genug. «Es tut mir so leid. Aber echt, Isa, ich hatte wirklich gedacht, dass du langsam drüber weg bist. Ich meine, du bist doch inzwischen mit Patrick zusammen gewesen, und…»
    «Ja», unterbrach ich sie. «Gewesen, genau. Jetzt bin ich aber mit niemandem mehr zusammen. »
    Lena schwieg. Schließlich tauschten wir noch ein paar Belanglosigkeiten aus, dann legte ich unter einem Vorwand auf. Die Braut widersprach nicht, schließlich hatte sie sowieso noch alle Hände voll zu tun. Ich knallte den Hörer so heftig auf den Küchentisch, dass ein kleines Stück des Plastikgehäuses absplitterte und zu Boden fiel. Es kümmerte mich nicht. Ich sprang auf und begann hin und her zu laufen, während mein Herz nur so raste. Das kann ja wohl nicht wahr sein, dachte ich, dieser verdammte Scheißkerl. Und: blöde Kuh!
    I ch schimpfte lautlos vor mich hin, obwohl ich doch im Grunde meines Herzens wusste, dass meine Freundin recht hatte. Ging es vielleicht nur noch um verletzte Eitelkeit? Wenn ich diesen speziellen Ex auch nicht mehr an meine Seite zurückwünschte, so konnte ich mir beileibe etwas Besseres vorstellen, als ihm und seiner Neuen bei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher