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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Carrie Ryan
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    F rüher war diese Stadt einmal etwas . A uf Bildern habe ich gesehen, wie sie gestrahlt hat – die Sonne spiegelte sich so grell in den Fenstern, dass man sich die Augen verbrennen konnte. Nachts drangen Lichter aus dem Stahl, schrill wie Pfeifkonzerte, laut und aufdringlich, während den ganzenTag langWeißbehandschuhte herbeieilten, um Türen zu öffnen für Frauen, die au f Wolkenkratzerabsätzen einherschwankten.
    Manchmal frage ich mich, was mit diesen Frauen passiert ist, als die R ückkehr eintraf – wie haben sie mit derart absurden Konstruktionen an den Füßen rennen und überleben können? Wie anders muss dieWelt vorher gewesen sein – wie sicher und bequem.
    Die Stadt hat nichts mehr davon. Jetzt strecken sich nackte Streben wie knochige Finger in den Himmel. Die Hälfte der Hochhäuser ist eingestürzt, und Plünderer haben das verschnörkelte Schmiedeeisen schon vor langer Zeit weggeschleppt. Kaum etwas ist übrig … nur die Angst, die wie Nebel durch die Straßen zieht.
    Angst vor den R ekrutern . A ngst vor den Ungeweihten . A ngst vor morgen.
    Trotz allem ist diese Stadt mein Zuhause gewesen . A bgesehen von dem Dorf, in dem ich als Kind gewohnt habe, ist dies die einzige mir bekannteWelt. Sie ist scharfkantig und rau, aber dennoch ein Zufluchtsort für jene, die überleben wollen. Man bezahlt seine Abgaben, man hält sich an die R egeln, und man tut, was nötig ist, um weiterzuleben.
    Und deshalb befinde ich mich auf der Neverlandsseite der Palisade, dem Schutz und Schirm der Dunklen Stadt, als sich die Abenddämmerung über den Himmel legt. Hierher ging Elias immer, wenn er unbedingt Geld brauchte, dringendTauschhandel treiben musste, damit wir unsere Abgaben bezahlen und ein weiteres Jahr in unserer winzigenWohnung bleiben konnten. Hier kann man sich für die entsprechende Gegenleistung alles eintauschen, und hierhin bin ich heute Nachmittag gekommen, um mir helfen zu lassen, nachdem die Klinge von meinem einzigen Messer abgebrochen ist.
    Die Ersatzklinge fest im Griff will ich gerade über eine der zwischen zwei Gebäuden gespannten Brücken gehen, da höre ich ein tiefes, grollendes Husten. Die Dämmerung naht, und Gewitterwolken hängen über dem Fluss, tauchen alles in mattgrünes Licht. Mit kleinen Schritten husche ich schneller dem nächsten Dach entgegen, denn ich will wieder in meinerWohnung in der Dunklen Stadt sein, bevor es ganz dunkel ist. Doch sobald ich einen Fuß auf die wacklige Brücke setze, ruft jemand: »Das würde ich an deiner Stelle nicht machen.«
    Das ausgefransteTau der R eling in der Hand erstarre ich. Ich bin schon so lange allein, dass ich gelernt habe, selbst auf mich aufzupassen, doch etwas an dieserWarnung lässt mich zögern. Gerade als ich den nächsten Schritt machen will, sagt die Stimme: »Schau nach unten.« Und das tue ich.
    Ein Dutzend Stockwerke tiefer liegt von dunklen Schatten eingehüllt die Straße, trotzdem erkenne ich, dass sich etwas bewegt. Ein Stöhnen steigt zwischen den Häusern auf. Die Sonne dringt durch eine Lücke in denWolken, das Licht fällt in die Straßenschlucht und bricht sich in Augen und gesplitterten Zähnen … so sieht es zumindest aus.
    Mein Blick gewöhnt sich an die Helligkeit, und ich kann Dutzende krallender Finger ausmachen, die aus einem Haufen zerschmetterter Körper heraus nach mir greifen. Eigentlich hätten diese Leute tot sein müssen nach dem Sturz, aber sie sind es nicht. Oder vielleicht sind sie auch gestorben, und die Infektion hat sie als Pestratten wieder zurückgebracht. Ich fröstele, Ekel steigt in mir auf.
    Vorsichtig ziehe ich mich auf das Dach zurück, dabei fällt mir auf, wie verrottet die hölzernen Planken sind, die ich gerade betreten wollte. Noch ein Schritt weiter, und ich wäre auch da unten auf diesem Haufen gelandet.
    »Du bist die Erste, die auf mich hört und nicht abtaucht.« Mit gezücktem Messer fahre ich herum. Eine Frau kauert zwischen zwei verfallenen Schornsteinen. Sie hält eine verkohlte Pfeife in der Hand, aus der ein Rauchfähnchen aufsteigt.
    Ich schaue mich auf dem Dach um, da ich mit irgendeinem Hinterhalt rechne. Die Frau zeigt auf mein Messer. »Nicht nötig«, sagt sie. »Bin allein hier oben.«
    Sie steckt sich die Pfeife wieder in den Mund, die Glut leuchtet hell auf, und in diesem Augenblick kann ich ihr Gesicht klar erkennen: dicke, dunkle Ringe um die Augen, Spuren vonTränen oder Schweiß – oder beidem. Dann zieht die verlöschende Glut sie wieder in die
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