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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Carrie Ryan
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alleTage zu bündeln, auf dass sieWochen, Monate und Jahre repräsentieren.
    Die Frau lacht, ihr feuchter Mund steht offen, und die Lippe wölbt sich auf der linken Seite nach innen, wo ihr ein paar Zähne fehlen. Sie muss nicht sagen, wie absurd diese Hoffnung in meiner Stimme klingt. Wir kennen beide die Überlebensquote der R ekruter vor der R ebellion: 1:7. Nur einer von sieben schafft es, nach seiner Dienstzeit von zwei Jahren wieder nach Hause zurückzukommen, und Elias hätte schon längst zurück sein müssen.
    Wut durchzuckt mich. Vielleicht war das ihre Absicht. Vielleicht will sie es mir leichter machen, ihr das Messer in die Brust zu stechen. Vielleicht soll ich den R uck der Klinge spüren wollen, die zwischen ihre Rippen fährt … und die Hitze ihres hervorquellenden Blutes. Mit zusammengekniffenen Augen gehe ich einen Schritt auf sie zu. Bald ist sie eine Ungeweihte, und die habe ich früher auch schon aus demWeg geschafft.
    Sie schiebt den Stiel der Pfeife durch ihre Zahnlücke und zieht daran, zwischen uns knistert rote Glut. »Oh, Schätzchen«, sagt sie schließlich, aberVerurteilung höre ich nicht heraus, sondern Mitleid.Verunsichert wende ich mich ab, damit sie mein Gesicht nicht sehen kann.Trotzdem gleitet ihr Blick wieder an meinen Narben entlang, an einer nach der anderen. Sie legt den Kopf schräg, so als würde sie versuchen, die Striemen zu einer Art Muster zusammenzufügen.
    »Ach, Schätzchen«, wiederholt sich noch einmal, und ich weiß, sie meint damit das Elend dieses Augenblicks. »Du hast die ganze Zeit auf ihn gewartet?«
    In diesem besorgtenTon würde eine Mutter mit ihrerTochter reden, und das reißt neuen Schmerz in mir auf. Ich nicke.
    »Die Stadt stirbt.« Ihre Stimme ist ruhig und sanft. Beruhigend. »Du solltest weggehen. Dir ein neues Leben suchen.« Sie zerrt den dünnenTräger ihres Hemdes auf die Schulter, doch er rutscht nur wieder herunter.
    Ich zucke die Achseln. »Das ist mein Zuhause«, erwidere ich und weiß, wie trotzig es klingt.
    Eine Zeit lang herrscht Stille zwischen uns. Keine echte Stille, die gibt es nicht, aber es ist so ruhig, wie es nur sein kann in den Neverlands mit dem Stöhnen, das von der Straße hochweht, und dem Brüllen aus dem übernächsten Häuserblock.
    »Ich hatte mal einen Mann, auf den ich gewartet habe«, sagt die Frau. Sie lässt den Zeh aus der Spitze ihres abgetragenen Schuhs ragen. Ich warte darauf, dass sie mehr erzählt, doch sie betrachtet nur eineWeile nachdenklich ihren Fuß, dann zuckt sie mit den Schultern.
    »Manche Männer haben komischeVorstellungen von Liebe.« Sie schiebt sich eine Strähne ihres fettigen Haares hinters Ohr, an ihrem Hals sind blaue Flecke zu sehen.
    Was sie an der Sache mit mir und Elias nicht wissen kann, ist, dass ich ihm versprochen habe, auf ihn zu warten, bis er zurückkommt.Wegzugehen hieße, er ist tot. Nichts anderes könnte ihn davon abhalten, zu mir nach Hause zu kommen, das weiß ich . A n dem Abend, an dem er gegangen ist, hat er gesagt, er würde mich wiederfinden. Und ich habe ihm geglaubt.
    Aber ein dunkler Gedanke drängt sich mir auf, einer, der schon seit Monaten am Rande meines Bewusstseins entlangkriecht: Als wir noch Kinder waren, hat Elias meine Schwester imWald derTausend Augen allein gelassen. Wie komme ich nur darauf, dass er mich nicht verlassen würde?
    Die Frau steht auf. Ich wirbele zu ihr herum; bereit, ihr Leben zu beenden, halte ich das Messer wieder zwischen uns. Sie kommt nicht näher und bedroht mich in keinsterWeise. Sie dreht nur ihre Pfeife um und klopft sie am Schornstein aus.Verglimmende Glut wirbelt um ihre Beine und Füße.
    »Hast du je darüber nachgedacht, wie du dir dein Leben eigentlich gewünscht hast? Als kleines Mädchen vielleicht?« Sie bewegt sich auf den Rand des Daches zu. Die Dunkelheit scheint sich endlos zu dehnen.
    Ich denke an das Dorf, in dem ich geboren wurde. Dort hatte ich eine Schwester, einen Vater, eine Gemeinschaft von Menschen, die mich geliebt und die für mich gesorgt haben.
    So. So wünsche ich mir mein Leben. Nicht diese Stadt. Nicht diese Narben. Nicht diese Einsamkeit. Ich erinnere mich an den Moment imWald, als meine Schwester hingefallen war und sich das Knie aufschlagen hatte. Das Blut war so hell gewesen. Und mit welcherVerzweiflung hatten dieToten sich an die Zäune gekrallt, als Elias und ich von ihr weggingen.
    Aber dieser Frau erzähle ich nichts davon. Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
    Sie wirkt ein bisschen
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