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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Carrie Ryan
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enttäuscht, so als hätte sie eine andere Antwort erwartet. »Hast du dich je gefragt, was du tun würdest, wenn du wüsstest, dass du sterben musst?«
    »Irgendwann sterben wir alle.«
    Sie lächelt, doch eigentlich ist es eher ein Zucken. »Ich meine, wenn du wüsstest, wann.Wenn du nur noch ein paarTage hättest.« Sie holt Luft und ergänzt dann: »Ein paar Augenblicke.«
    Ich schüttele den Kopf. Das ist eine Lüge, aber diese Frau soll mich nicht noch besser kennen. Hier bei ihremTod anwesend zu sein, ist vertraulicher als alles andere, das ich in den letzten Jahren mit anderen Menschen erlebt habe. Ich will diese Frau nicht mögen, sie soll mir nichts bedeuten, sonst wird dieser Moment – und alles was folgt – zu schmerzlich.
    Ich weigere mich, etwas für Menschen zu empfinden, die mich verlassen werden. Dass ich dieser Frau nichts anderes anbieten kann, tut mir leid, doch ich muss mich schützen, nicht sie.
    Ihre Augen fangen an zu glitzern, ihre Schultern zucken, sie gibt vor zu lachen. »Na gut«, sie wedelt mit ihrer dreckigen Pfeife in der Luft herum, als wäre damit alles wegzuwischen. »Na gut«, wiederholt sie kaum vernehmlich.
    Sie fängt an zu zittern. Die Infektion hat sie jetzt fester im Griff, nistet sich tief in ihr ein, um zu töten. Jetzt kann sie jeden Moment zusammenbrechen, ihr Körper versagt, und sie stirbt. Und dann wird sie zurückkehren und die Klauen in mein Fleisch schlagen wollen.
    Mit dem Messer in der Hand bewege ich mich auf sie zu, aber ihr Kopf zuckt herum, mit einer heftigen Armbewegung wehrt sie mich ab. Sie steht am Rand des Daches. Unter uns stöhnen die Pestratten.
    »Ich wollte nur …«, sie hebt die Hand zum Kopf und richtet ihr Haar. Ihre Nasenlöcher beben. »Ich wollte nur, dass sich jemand erinnert«, sagt sie dann. »Ich wollte nur für jemanden schön sein, nur für eine kleineWeile.«
    Und ehe ich fragen kann: »An was erinnert?« oder »An wen erinnert?«, beugt sie sich vor und springt. Der Luftzug weht ihr das Haar aus dem Gesicht, ihr Körper wiegt sich einen Moment lang wie ein Band in der Brise, dann stürzt sie in die Dunkelheit.
    Sie schreit nicht mal.
    Ich muss nicht zum Rand laufen, um zu wissen, was mit ihr passiert ist. Ich höre, wie ihr Körper unten auf dem Beton aufschlägt. Das Geräusch von brechenden Knochen, das Zerschmettern des Schädels.
    Ich lasse das Messer fallen und schlage die Hände vors Gesicht, umklammere mit den Fingern die Stirn, als könnte mich das zusammenhalten. Ich hätte nicht der Mensch sein sollen, der bei ihremTod zugegen ist. Ich kenne nicht mal ihren Namen, noch weiß ich, wem ich erzählen soll, dass sie nicht mehr ist.
    Und plötzlich wird mir klar, wie sehr ihre Situation der meinen gleicht. Niemand würde davon erfahren oder sich darum kümmern, wenn mir dasselbe zustoßen würde. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendeiner der wenigen verbliebenen Nachbarn in meiner Ecke der Dunklen Stadt sich auch nur an meinen Namen erinnert, und noch viel unwahrscheinlicher, dass er es bemerken würde, wenn ich einesTages verschwinde.
    Noch nie im Leben habe ich mich so einsam gefühlt. Sicher, ich habe die letzten drei Jahre allein verbracht, aber ich habe mich immer aufs Überleben konzentriert und auf Elias gewartet. Diese Frau hat etwas in mir ausgelöst. Sie hat mich erkennen lassen, dass in mir eine Art Lücke klafft, und jetzt frage ich mich, ob ich je wissen werde, wie diese zu schließen oder zu füllen ist.
    Irgendwann hebe ich den Kopf und bemerke ein Bündel in der Nische zwischen den beiden Schornsteinen, in der die Frau gesessen hat. Benommen hebe ich es auf. Es fühlt sich nicht richtig an, es durchzusehen, doch das hält mich nicht davon ab, es dennoch zu tun.
    Ihre wenigen Habseligkeiten bestehen aus kaum mehr als ein paar halbleeren kleinen Dosen mit farbigem Puder und Pasten. Schminke, mit der sie niemals auch nur annähernd ihr Alter oder die Verzweiflung hätte vertuschen können, die sich in jede Falte ihres Gesichts gegraben hatten.
    Mit dem Finger fahre ich durch ein Zinnoberrot, irgendetwas an diesem Farbton spricht mich an. Dann drücke ich meine Hand probeweise an den Schornstein und mache neben der Stelle, an der die Frau gesessen hat, einen roten Strich auf die rauchgeschwärzten Ziegel.
    Ich krame zwischen den Tiegeln herum, finde ein Blau, das ich über das R ot verschmiere und kreise es mit Schwarz ein . A ugen, Lippen, Haare, Kinn: Nach und nach erschaffe ich ein Porträt der Frau.
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