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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern
Autoren: Guido Dieckmann
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der schweren Grabplatten war von der Seitenwand herabgefallen, an ihrer Stelle klaffte ein großes Loch im Mauerwerk. Die Platte lag zerbrochen auf dem gestampften Lehmboden.
    Griet schlug die Hand vor den Mund. Der Atem stockte ihr, als ihr klar wurde, dass der Spanier ihnen noch etwas anderes zeigen wollte. Unter dem Epitaph lag ein Mensch. Sie sah nur einige Finger und einen Fetzen Tuch. Dazwischen sickerte Blut in den Staub.
    «Ist das Rink?», fragte Farnese. «Oder der arme Don Luis?»
    «‹Dem Gottlosen, der das Wort entweiht, um finstere Schatten zu jagen, wird ebendieser Schatten folgen, und er wird sich über ihn legen, wenn er tief hinabsteigt. Die Toten, die er missachtet, werden ihn erschlagen.›» Cäcilias Stimme stieg empor wie ein Flüstern, doch was sie sagte, ergab für Griet plötzlich einen furchtbaren Sinn. Sie schüttelte müde den Kopf, während sie voller Angst wartete, bis zwei von Farneses Männern die Trümmer der entzweigebrochenen Platte anhoben, damit ein dritter den Toten hervorziehen konnte. Sie atmete auf. Es war Rink.
    «Hier liegt noch einer», verkündete der Fackelträger. «Großer Gott, ich glaube, es ist wirklich Don Luis.»
    Griet schnappte nach Luft. So schnell sie konnte lief sie um die Platte herum und half, Don Luis zu bergen. Warum, Gott, schrie sie stumm, während sie ihn von Schutt und Steinen befreiten. Es war ein Fingerzeig des Schicksals, dass Gott Rink beim Versuch, durch das Loch zu schlüpfen, von einer Grabplatte erschlagen ließ. Vermutlich hatte Don Luis Widerstand geleistet, und einer von beiden war bei dem Gerangel gegen den losen Stein geschleudert worden. Genau würde Griet es wohl nie erfahren.
    Don Luis hatte die Augen geschlossen, die Glieder waren schlaff und unnatürlich gekrümmt. Cäcilia ging neben Griet in die Knie. Sie streckte die Hand aus, um ihren Sohn zu berühren, schreckte dann aber zurück, als befürchtete sie, jedes Recht dazu eingebüßt zu haben. Griet, der das nicht entging, sah sie an. «Fällt Euch nicht noch ein weiser Vers aus Eurem Buch ein? Einer, der die Toten erweckt, vielleicht?»
    Die schwarze Schwester schüttelte traurig den Kopf. «Ihr wisst so gut wie ich, dass ich die Schrift in dem Buch ebenso wenig verstehe wie die Sprache der Vögel. Ich habe mir das ausgedacht, um Rink zu täuschen.»
    «Aber es traf doch ein, was Ihr vorgelesen habt.» Griet wusste nun endgültig nicht mehr weiter. «Der Gesang der Mächtigen … Farneses Leute tauchten im richtigen Moment auf. Und Rink wurde sinnbildlich von Toten erschlagen. Von einem Grabstein. Ihr habt eine Gabe. Das Buch … wer auch immer sie Euch verliehen hat: Nutzt sie jetzt. Für ihn!»
    «Ihr deutet das so, weil es plötzlich für Euch einen Sinn ergibt. Dieser Sinn an sich ist gut und trägt auch Wahrheit in sich. Aber leider verstehen wir meist nur, was wir auch verstehen wollen, und überhören, was nicht sein darf. Wenn das Buch mir etwas beigebracht hat, dann, dass wir nicht mit Gewalt versuchen dürfen, uns Dinge anzueignen, für die wir noch lange nicht bereit sind.»
    Cäcilias Worte überzeugten Griet nicht. Sie vermutete, dass die Frau ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Bevor sie protestieren konnte, spürte sie plötzlich, wie Don Luis den Kopf bewegte. Ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen. Er atmet, dachte sie überwältigt. «Er lebt», rief sie Farnese zu, der ungläubig zu ihr herüberschaute.
    «Ist das möglich?» Der Statthalter beugte sich mit einer Fackel über seinen einstigen Vertrauten und hielt die Klinge seines Schwertes unter dessen Mund und Nase. Die Klinge beschlug leicht.
    «Wird Zeit, dass ich hier fortkomme», knurrte er. «Diese Stadt fängt an, mir unheimlich zu werden.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Kapitel 35
    Namur, Weihnachtsabend 1582
    «Was machst du denn nun schon wieder? Wer hat dir erlaubt, aufzustehen?»
    Griet seufzte. Don Luis im Bett zu halten war genauso schwer wie bei Basse, wenn er eine Erkältung auskurieren sollte. Was sollte sie nur mit ihm anfangen? Ihm Ketten anlegen? Damit drohen, dass sie abreiste? Einen Moment lang sah sie ihm dabei zu, wie er sich mit schweißnassem Gesicht abmühte, einen sauberen Kittel über den Kopf zu ziehen. Die Sonne ging schon unter. Nach Einbruch der Dunkelheit sollte im großen Saal der Burg ein Weihnachtsbankett abgehalten werden, auf das sich seit Wochen jeder hier freute. Hatte Don Luis sich etwa in den Kopf gesetzt, daran teilzunehmen?
    Er war erst halb angezogen, wofür er
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