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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns
Autoren: Peter S. Beagle
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in seinen Anorak und zog ein Horn hervor. Es war so lang wie sein Unterarm, wand sich schneckenförmig wie eine Meeresmuschel, und erst hielt es Joey für Plastik, denn es hatte dieses dunkle schimmernde Silberblau, das man in billigen Schminkkästen oder bei spielzeuggroßen Sportwagen findet. Doch als er das Horn an die Lippen führte, wurde Joey schon bei den ersten Tönen klar, daß es aus einem Material bestand, das ihr gänzlich unbekannt war. Der Ton war sanft, er hörte sich warm und voll an, klang weder nach Holz noch nach Blech… er glich einer fernen, menschlichen Stimme, die wortlos von einem Ort sang, den sie nicht kannte. Als sie das hörte, schnürte es ihr die Kehle zu, und sie spürte ein Brennen in den Augen, und doch merkte sie voller Staunen, daß sie lächelte.
    Es gab keine Löcher zum Greifen, sondern nur diese eine abgeflachte Öffnung an der Spitze des Horns, in welche man hineinblies. Anfangs klangen die Töne noch wahllos, doch dann flossen sie zu einer langsam sich wiegenden, silberblauen Weise ineinander, deren Rhythmus ihr immer wieder entglitt und wie ein verspieltes Kätzchen ständig davonlief. Joey stand da, vergaß vollkommen, wo sie war, und nur ihr Kopf wiegte sich leicht, während Indigo spielte. Er rührte sich nicht, doch die Musik selbst kam näher wie ein Kätzchen, wenn es Zutrauen faßt. Im einen Augenblick klang sie so vertraut wie ein Kinderlied, im nächsten so kalt und fremd wie Mondlicht, das sich in eine Melodie verwandelt hat. Ein- oder zweimal streckte Joey zögerlich die Hand aus, als wollte sie die Klänge streicheln, doch jedesmal wurde der Blick des Jungen derart wild und argwöhnisch, daß sie ihre Hand eilig zurückzog. Es schien ihr, als leuchtete das Horn stetig heller, während er darauf spielte, und wenn sie die blausilbernen Spiralen mit ihrem Blick verfolgte, ganz vorsichtig, würden diese sie den ganzen Weg im Kreis und hinunter – in die Musik hinein – führen. Indigo betrachtete sie mit mittlerweile ausdruckslosen Augen, das dunkle Blau hatte nun dieselbe tiefschwarze Farbe angenommen wie der interstellare Raum in Star Trek.
    Joey hatte keine Vorstellung, wie lange er gespielt hatte und wie lange John Papas schon in der Tür stand. Sie drehte sich erst um, als sie ein sanftes Krächzen hörte: »Entschuldigt mal. Wen haben wir denn da?« Augenblicklich hörte Indigo zu spielen auf, fuhr auf dem Absatz herum, verneigte sich mit dem Horn in der Hand.
    »Er hat Sie gesucht«, sagte Joey. Nach der Musik klang ihre Stimme selbst in ihren Ohren seltsam und laut. »Er heißt Indigo.«
    »Indigo«, sagte John Papas. »Deine Eltern waren wohl in Woodstock, was?« Der Scherz hatte einen seltsam ausdruckslosen Unterton. Er starrte den Jungen voll Anerkennung an, mit blasser Miene, die Augen etwas groß. Mit derselben tonlosen Stimme fragte John Papas: »Was ist das? Zeig es mir.«
    Indigo verneigte sich noch einmal und reichte ihm das silberblaue Horn. Bedächtig nahm John Papas es entgegen, sah den Jungen immer noch an, während er mit den Händen darüber strich, unverhohlen erstaunt, daß es keine Löcher hatte. Er führte das Horn zum Mund und blies erst über das Mundstück und dann hinein, anfangs leicht, aber als kein Ton herauskommen wollte, pustete er und stieß die Luft fester hinein. Schließlich – mit einem inzwischen geröteten Gesicht und verständlicherweise irritiert – sagte er: »Gut. Spiel du noch mal.«
    Lächelnd nahm Indigo das Horn wieder in Empfang. »Ich glaube, es ist nicht für jeden.« Er neigte das Horn, bis es auf die altmodische Querblende über der Ladentür deutete, dann spielte er ein Lied, das so schlicht war wie ein Amselruf, so liebenswert bescheiden, daß in Joey eine Angst hochstieg, die sie nie für möglich gehalten hätte. Die Härchen stellten sich ihr im Nacken auf, Lippen und Wangen verkrampften sich schmerzhaft, und kalt zog sich ihr Magen zusammen. Doch die Musik tanzte weiter, brandete aus Indigo empor, ohne daß Finger dafür nötig gewesen wären, sie zu formen oder zu lenken: im einen Moment die Blechflöte eines Kindes, dann wieder eine ferne Stimme, die einerseits ihre eigene Musik verhöhnte, andererseits lockte und verspottete.
    Neben Joey stand John Papas und keuchte mit offenem Mund wie ein Langstreckenläufer, und sein Kopf bewegte sich nach der Musik. Als sie verstummte, sagte er leise, aber schroff: »Was ist das für ein Ding? Woher hast du das?«
    »Es gehört mir«, antwortete Indigo. »Es
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