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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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er nicht mehr lebte. Man hätte anschließend mit Ria über Tod und Trauer, Verlust und Schmerz reden müssen, meinte Gottfried. Als er gegen Mitternacht zur Polizeiwache nach Grevingen fuhr und den Beamten ein Foto von Ria brachte, wünschte Franziska sich, sie hätte ebenfalls Angst um ihr Kind haben können. Aber sie fühlte absolut nichts.
    Am nächsten Morgen kam Ria von alleine zurück. Sie roch nach Zigaretten und Bier. Gottfried ging vor Wut die Wände hoch, schlug sie grün und blau, weil sie partout nicht sagen wollte, wo sie sich herumgetrieben hatte. Bis auf die Knochen blamiert fühlte er sich, weil er die Polizei um Hilfe gebeten hatte. Und kurz nachdem er sich abreagiert hatte, standen zwei Beamte vor der Tür und wollten wissen, ob Ria inzwischen heimgekommen sei. Franziska rief ihre Tochter herunter. Und Gottfried musste gestehen, dass Ria nicht etwa während ihrer Abwesenheit so fürchterlich verprügelt worden, sondern dass ihm die Hand ausgerutscht war.
    Die Polizisten zeigten Verständnis für den ohnmächtigen Zorn eines Vaters. Gottfried handelte sich nicht auch noch eine Anzeige wegen Körperverletzung ein, musste sich nur eine Ermahnung anhören und zügelte fortan seinen Jähzorn. Wenn es ihn danach in den Fäusten juckte, rannte er lieber den Gartenweg rauf und runter. Und das tat er verflucht oft.
    Mit vierzehn, fünfzehn wurde Ria regelmäßig in einer Diskothek in Grevingen aufgegriffen, in der hauptsächlich belgische Soldaten verkehrten. Zu der Zeit gab es in der Gegend ringsum noch mehrere Nato-Stützpunkte mit Raketensilos und Kasernen, in denen auch amerikanische Soldaten stationiert waren. Die verbrachten ihre Freizeit aber lieber in einem Club mit Türsteher. Da wäre ein Mädchen in Rias Alter nie hineingekommen. In der Diskothek wurden die Ausweise nicht an der Tür kontrolliert, da schaute nur regelmäßig die Polizei nach dem Rechten und sammelte alles ein, was unter achtzehn war.
    Franziska hatte den Verdacht, dass Ria es darauf anlegte, erwischt zu werden. Jedes Mal musste Gottfried sie anschließend auf der Wache abholen, platzte beinahe vor Wut und musste an sich halten, sie nicht wieder zu verprügeln. Dass Ria mit ihrem Verhalten keineswegs völlig aus der Art schlug, wollte er nicht wahrhaben. War er in seiner Jugend nicht genauso rebellisch gewesen und hatte sich von den Alten keine Vorschriften machen lassen?
    «Das kannst du doch nicht vergleichen», widersprach Gottfried immer, wenn Franziska auf seine rebellische Ader verwies. «Das war eine andere Zeit. Ich war ein paar Jahre älter als Ria. Und ich war ein Mann, dem niemand an die Wäsche wollte.»
    Wie recht ihr Vater mit seinen Befürchtungen hatte, erfuhr Ria mit siebzehn. Da entging sie beim Trampen nur knapp einer Vergewaltigung, zog aber daraus keine Lehre.
    Kaum war 1975 die Volljährigkeit auf achtzehn herabgesetzt worden, packte Ria ein paar Sachen, stahl Franziska das Haushaltsgeld aus dem Schrank und machte sich aus dem Staub. Ein volles Jahr lang trieb sie sich in der Weltgeschichte herum. Gelegentlich rief sie daheim an und bat um Geld für eine Fahrkarte Richtung Heimat, postlagernd bitte. Franziska schickte ihr jedes Mal etwas und hatte deswegen oft genug Krach mit Gottfried.
    Wer nicht heimkam, war Ria. Ob sie für das Geld tatsächlich Fahrkarten oder sonst etwas kaufte, wusste nur sie allein. Sie lebte nach der Devise, Arbeit sei etwas für Hirnamputierte. Man kam auch ohne durchs Leben. Aus den Lebzeiten ihrer Großmutter hatte sich ihr der Spruch von den Vöglein auf dem Felde eingeprägt. «Sie säen nicht, sie ernten nicht, und Gott, der Herr, ernährt sie doch.» Nach Hause kam Ria erst, als sie voller Läuse war und eine Gelbsucht hatte. Da war sie zwanzig und musste für zwei Wochen ins Krankenhaus. Danach verschwand sie erneut.

    Zu der Zeit kam in Garsdorf das Gerücht auf, Helene Junggeburt sei an Krebs erkrankt. Sie habe einen kürbisgroßen, bösartigen Tumor im Leib und verweigere die ärztliche Behandlung. Ihr Bauch sei aufgebläht wie ein Ballon, ansonsten sei sie nur noch Haut und Knochen.
    Franziska hörte das wie vieles andere von ihrer jüngsten Schwester Martha, die in die Bäckerei Jentsch eingeheiratet hatte. Eine Kundin hatte im Laden erzählt, Helene wäre todkrank. Die Kundin wiederum hatte es von einer Nachbarin erfahren und die von einer Bekannten. Diese Bekannte sollte Helene in Begleitung der Krankenpflegerin auf dem Friedhof getroffen und angeblich sogar ein paar
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