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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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noch ein Kind der Sünde mit Namen Maria.
    Wie hätte das für Franziska ein Trost sein können? Sie war nicht imstande, das Neugeborene noch einmal in den Arm zu nehmen, geschweige denn, es zu versorgen. Sie konnte den Säugling nicht einmal mehr anschauen und bekam einen Schreikrampf, als eine Krankenschwester von der kleinen Marie sprach. Deshalb wurde das Kind fortan Ria genannt.
    Zwei Tage nach Mariechens Tod verließ Franziska das Krankenhaus – gegen den Rat des Arztes und ohne Ria. Sie ging zu Fuß nach Garsdorf, weil sie Mariechen vor der Beerdigung unbedingt noch einmal sehen musste. Sonst hätte sie es doch gar nicht glauben können.
    Ria blieb noch eine volle Woche in der Obhut der barmherzigen Schwestern. Die Hebamme holte sie schließlich heim und übergab sie Gottfrieds Mutter. Die schob das Kinderbett notgedrungen in ihr Schlafzimmer und rannte um einen Liter Milch zum nächsten Bauern, weil Franziska nicht mehr stillen konnte. Bei ihr war der Fluss versiegt, als hätte jemand die Quelle zugemauert.
    Ihre Schwiegermutter zerfloss in Fürsorge und rührendem Eifer, als ließe sich damit etwas gutmachen. Nebenher lief sie sich ein Bein aus zur Kirche. Mit den Kerzen, die sie vor dem Marienaltar anzündete, hätte man die ewige Finsternis ausleuchten können. Nur nicht die Dunkelheit, die sich über Franziska gelegt hatte.

    Es zog sie täglich zum Friedhof. Da mochte es wie aus Kübeln gießen, die Sonne vom Himmel brennen, dass man Kopfschmerzen bekam, oder frieren, dass die Tränen im eisigen Wind wie scharfe Klingen in die Wangen schnitten – Franziska brauchte das. Jeden Tag. Mindestens eine halbe Stunde Zwiesprache mit ihrem Mariechen.
    In den ersten Jahren konnte sie nur um Verzeihung betteln, um Verständnis für ihren Entschluss, das zweite Kind im Krankenhaus zu gebären, für ihre Bequemlichkeit und den Egoismus, sich ein paar Tage von den barmherzigen Schwestern verwöhnen zu lassen, für die Tatsache eben, dass sie nur ein Mensch war.
    Irgendwann im siebten Jahr fing sie an, dem Fleckchen Erde zu erzählen, was ihr so durch den Kopf ging und das Herz schwermachte. Und da kam mit der Zeit einiges zusammen.
    Ihre Schwiegermutter wurde auch nicht damit fertig, dass ihre Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit zu Mariechens Tod geführt hatte. Eine Zeitlang hielt Gottfrieds Mutter sich mit der Fürsorge für die zweite Enkeltochter und mit Besuchen in der Kirche seelisch über Wasser. Aber Ria wuchs heran, brauchte mit sieben, acht Jahren keine ständige Aufsicht mehr, wollte gar nicht bei jedem Schritt ins Freie an die Hand genommen werden und gewiss nicht jeden Tag mit ihrer Oma zur Kirche gehen und stundenlang beten.
    Von da an verfiel Gottfrieds Mutter zusehends. Man konnte wirklich zuschauen, wie sie ihrem Grab entgegenschritt. Von Woche zu Woche wurde sie wunderlicher und vergesslicher. Dachte nicht daran, sich zu waschen und eine Strickjacke überzuziehen, wenn sie bei kühler Witterung zur Kirche ging. Immerzu musste Franziska sie erinnern, zu essen und zu trinken. Am Ende vergaß sie ihren eigenen Namen und das Atmen. Das war 1966, Ria war zehn Jahre alt.
    Der Schwiegervater überlebte seine Frau nur ein knappes Jahr. Er hatte nach Mariechens Tod eine regelrechte Manie für die Gartenarbeit entwickelt. Doch nachdem er seine Frau verloren hatte, wollte sein Herz nicht mehr so wie er. Schließlich musste der Arzt ihm jede körperliche Anstrengung verbieten. Ein paar Wochen lang scharwenzelte er noch jeden Abend den Gartenweg hinauf und hinunter. An einem Abend im März 1967 kam er nicht zurück ins Haus. Ria fand ihn auf der Grundstücksgrenze liegend, etwa an dem Platz, an dem 1956 der Goldregen gestanden hatte.
    In den darauffolgenden fünf Jahren verausgabte Gottfried sich mit Umbauen und Modernisierungen am Haus und regte sich nebenher über Ria auf. Zeitweise war sein Blutdruck astronomisch hoch. Mehr als einmal befürchtete Franziska, er bekäme einen Schlaganfall, nur wegen Ria.
    Ihre jüngste Schwester Martha nannte Ria mal einen Nestflüchter. Das traf es auf den Punkt. Ein paar Wochen nachdem sie die Leiche ihres Großvaters im Garten entdeckt hatte, riss Ria zum ersten Mal aus, nur für eine Nacht, als wolle sie bloß feststellen, ob’s ihren Eltern auffiel.
    Gottfried fuhr stundenlang herum und suchte sie, ohne Erfolg. Er machte sich Vorwürfe, weil er glaubte, Ria habe einen furchtbaren Schreck bekommen, als sie ihren Opa im Garten liegen sah und feststellen musste, dass
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