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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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den Mund steckte. Die Blüten oder Blätter der Tollkirsche aus Nachbars Garten zum Beispiel oder den Goldregen. Es gab keinen Zaun auf der Grundstücksgrenze, und bei den Nachbarn wuchs einiges, was hübsch aussah, ein kleines Kind aber schnell unter die Erde bringen konnte.
    Den Goldregen könne man theoretisch ausschließen, sagte der Dorfarzt später. Wenn Mariechen davon etwas geschluckt hätte, hätte sie anschließend erbrochen. Das wäre ihrer Großmutter keinesfalls entgangen. Und Gottfrieds Mutter schwor Stein und Bein, es sei nichts passiert, was sie zu der Vermutung hätte bringen können, Mariechen sei nicht völlig gesund. Doch das glaubte Franziska ihr nie.

    Als Gottfried und sein Vater von der Arbeit kamen, lag Mariechen im Bett. Sie sei quengelig gewesen, weil sie sonst immer am Rockzipfel ihrer Mutter hing und Franziska sie nicht habe mitnehmen können, hörte Gottfried von seiner Mutter. Er ging zwar sofort ins Schlafzimmer, in dem auch das Kinderbett stand. Doch die Gardinen waren zugezogen. Und Gottfried machte kein Licht.
    Da Mariechen dem Anschein nach fest schlief, wollte er sie nicht aufwecken. Ihm kam auch nicht der Gedanke, ihr eine Hand auf die Stirn zu legen oder gar nach ihrem Puls zu tasten. Er nahm nur leise ein frisches Hemd aus dem Schrank, schlich auf Zehenspitzen wieder hinaus auf den Flur, zog sich dort um und schwang sich draußen aufs Fahrrad. Verständlicherweise zog es ihn ins Krankenhaus, wo er noch gute zwei Stunden vor dem Kreißsaal warten musste, ehe seine zweite Tochter ihren ersten Schrei tat.
    Zu dem Zeitpunkt schrieb der Dorfarzt bereits den Totenschein für Mariechen aus. Sie war wohl schon tot gewesen, als Gottfried das frische Hemd aus dem Schrank genommen hatte. Sein Vater hatte kurz darauf festgestellt, dass die Kleine nicht mehr atmete. Warum der, kaum dass Gottfried aus dem Haus war, das Schlafzimmer von Sohn und Schwiegertochter betreten hatte, um einen Blick ins Kinderbett zu werfen, darüber wurde nie offen gesprochen, es kamen immer nur Ausflüchte. Deshalb war Franziska sicher, dass ihre Schwiegermutter ihm gesagt hatte, dass mit Mariechen etwas nicht stimmte.
    Gottfried kam erst gegen elf Uhr nachts aus Grevingen zurück, glücklich und erleichtert, dass Franziska es überstanden hatte und Mutter und Kind wohlauf waren. Er wollte seinen Eltern nur Bescheid sagen und dann ins Bett. Doch in der Nacht machte im Hause Welter keiner mehr die Augen zu.
    Sie saßen zu viert in der guten Stube, als Gottfried hereinkam. Seine Mutter mit verheultem Gesicht, am ganzen Körper zitternd, als erwarte sie das Jüngste Gericht. Sein Vater mit starrer Miene und mahlenden Kiefern. Der Arzt druckste herum, weil er auf dem Totenschein die Darmgrippe als Ursache angegeben hatte. Und die war es ganz bestimmt nicht gewesen.
    Der Vierte im Bund war der Pfarrer. Gottfrieds Mutter hatte ihn alarmiert und unter Tränen um ein paar Sakramente angefleht. Die hatte er dem kleinen Leichnam leider nicht mehr spenden können. Nun hoffte er inständig, dass der Allmächtige sich dennoch barmherzig zeigte und die unsterbliche Seele des Kindes nicht bis zum Jüngsten Gericht im Fegefeuer schmoren ließ, um sie dann in die Hölle zu verbannen.
    Das war 1956 noch wichtiger, als der tatsächlichen Todesursache auf den Grund zu gehen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Lasst euch das eine Lehre sein und euer zweites Kind taufen. Und holt euch endlich den Segen der heiligen Mutter Kirche für eure Ehe.
    Gottfried dachte nicht daran, er war so außer sich, dass er den Pfarrer hinauswarf und seiner Mutter anschließend an die Gurgel wollte. Sein Vater und der Arzt hielten ihn mit Mühe zurück. Sein Vater brachte die völlig verstörte Frau hinauf, der Arzt redete beschwichtigend auf Gottfried ein und erbot sich, es Franziska so schonend wie nur möglich beizubringen. Davon wollte Gottfried ebenso wenig hören wie vom himmlischen Reich. Es Franziska beizubringen sei seine Aufgabe, meinte er. Er wusste nur nicht, wie er die bewältigen sollte.
    Am nächsten Vormittag nahm er sich frei, um die amtlichen Formalitäten zu erledigen. Dabei kam ihm die vermeintlich gute Idee, den Verlust für Franziska ein wenig erträglicher zu machen. Vielleicht war es aber auch eine Trotzreaktion gegenüber dem Pfarrer. Ursprünglich hätte die zweite Tochter Silvia heißen sollen, den Namen hatte Franziska am vergangenen Abend vorgeschlagen. Nun gab es
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