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Die Schuldlosen (German Edition)

Die Schuldlosen (German Edition)

Titel: Die Schuldlosen (German Edition)
Autoren: Petra Hammesfahr
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war als der Tod, probierte Helene es beim dritten Mal mit ihrem Auto. Sie zog sich schwerste Verletzungen zu und musste mit dem Hubschrauber in eine große Kölner Klinik geflogen werden, weil das Grevinger Krankenhaus auf solch einen Notfall nicht eingerichtet war.
    Helene überlebte auch ihren Unfall , wurde danach aber lange Zeit nicht mehr im Dorf gesehen, was zu wüsten Spekulationen führte. Mal hieß es, sie sei so stark entstellt, dass sie sich nicht mehr unter Leute traue. Mal war sie angeblich gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Mal hatte sie ihr Augenlicht und beide Beine verloren. Man wusste gar nicht, was man glauben sollte.
    Wenn Franziska Helene besuchen wollte, wurde sie entweder von einer Krankenpflegerin oder von Frau Schmitz mit unterschiedlichen Sprüchen an der Haustür abgewimmelt. Die Krankenpflegerin erklärte meist, die gnädige Frau habe sich gerade hingelegt und möchte nicht gestört werden. Wenn Frau Schmitz an die Tür kam, befand Helene sich stets auf Reisen. Sie war tatsächlich mehrfach für einige Monate in einem Sanatorium. Und manchmal war sie einfach nicht in der Verfassung, eine frühere Magd zu empfangen. Bei aller Verbundenheit, viel mehr als eine Magd war Franziska doch letztlich nie gewesen. Da mochte sie noch so gut aus eigenem Erleben wissen, durch welche Hölle man nach dem Tod einer über alles geliebten Tochter ging.

    Als Alexa Junggeburt starb, lag Franziskas Erstgeborene schon seit sechzehn Jahren in der sogenannten Kinderecke, dem von der kniehohen Buchsbaumhecke umstandenen Geviert mit den kleinen Grabstellen. Nur zweieinhalb Jahre alt war Mariechen geworden und auch ein liebes Kind gewesen, ein quietschvergnügtes obendrein, stets fröhlich, nie ernsthaft krank.
    Was immer im Dorf die Runde gemacht hatte, jede Erkältung, die Masern, Röteln, Wind- oder Wasserpocken, Mumps, Keuchhusten und diese eklige Darmgrippe, unter der im Juli und August 1956 die Hälfte der Bevölkerung gelitten hatte, an Mariechen war alles spurlos vorbeigezogen. Sie hatte nicht mal Fieber bekommen, wenn wieder ein Zahn durchgebrochen war. Ein Glückskind. Wie oft hatte Gottfried das gesagt.
    Und wie oft hatte der Pfarrer ihn auf der Straße angehalten und auf den Frevel angesprochen: ein Kind der Sünde, dessen unsterbliche Seele zu allem Überfluss auch noch von der Erbsünde befleckt war, weil seine nicht vor Gottes Altar getrauten Eltern ihm das Sakrament der Taufe verweigerten. So ein Kind ausgerechnet nach der Mutter unseres Herrn Jesus zu benennen, wenn sich das nur nicht eines Tages bitter rächte.
    «Wir haben sie nach meiner Mutter genannt, Hochwürden», antwortete Gottfried jedes Mal.
    Er mit seinem rebellischen Mundwerk! Kannte keinen Respekt vor irgendeiner Obrigkeit, glaubte an keinen Gott, fürchtete nicht Tod und Teufel, nur die Menschen, vielmehr das, was sie einander antun konnten. Viel zu jung hatte Gottfried entsetzliche Gräuel miterlebt: dreizehn-, vierzehnjährige Kinder, die auf Befehl hirnverbrannter alter Narren an der Heimatfront verheizt wurden. Ein Fünfzehnjähriger, mit dem Gottfried die Schulbank gedrückt hatte, war vor seinen Augen standrechtlich erschossen worden – wegen Feigheit vor dem Feind und Fahnenflucht.
    «Er wollte nur nach Hause zu seiner Mutter», erzählte Gottfried später mal, als alle Eltern sich wünschten, dass ihre Fünfzehnjährigen freiwillig und rechtzeitig heimkamen und sich nicht an verrufenen Orten herumtrieben.
    Gottfried konnte sich nicht vorstellen, dass sein Glückskind einmal Pech haben könnte. Er wurde auch danach nicht wankend in seiner Ungläubigkeit, wollte nichts hören von göttlichem Zorn oder einer Prüfung, die der Himmel ihnen geschickt hatte.
    Franziska dagegen quälte sich jahrelang mit heftigen Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen. Weil sie Mariechen nicht heimlich in die Kirche gebracht und übers Taufbecken gehalten hatte. Und mehr noch, weil sie an ihre Bequemlichkeit und etwas Erholung, an die eigene und die Gesundheit eines Ungeborenen gedacht hatte. Hätte sie dem Dorfarzt nicht nachgegeben, als der vorschlug, sie solle für die zweite Entbindung ins Grevinger Krankenhaus gehen …
    Ursprünglich hatte Franziska ihr zweites Kind ebenso im Ehebett gebären wollen wie das erste. Aber auch sie hatte Ende Juli heftig an der Darmgrippe gelitten. Der fortgeschrittenen Schwangerschaft zum Trotz hatte sie fast zehn Pfund abgenommen, nicht mal ein Schlückchen Kamillentee im Leib behalten und tagelang kein
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