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Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number

Titel: Die Handschrift des Todes - Verdon, J: Handschrift des Todes - Think of a number
Autoren: John Verdon
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    Cop Art
    Jason Strunk war nach Meinung aller ein unscheinbarer Mann - über dreißig, farblos, für seine Nachbarn praktisch unsichtbar - und offenbar auch unhörbar, denn niemand konnte sich auch nur an eine einzige Äußerung von ihm erinnern. Die Befragten waren sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt jemals gesprochen hatte. Vielleicht hatte er genickt, hallo gesagt, ein oder zwei Worte genuschelt. Genaueres war nicht bekannt.
    Und alle zeigten sich anfangs in typischer Weise überrascht und vorübergehend sogar fassungslos, als sich herausstellte, dass Mr. Strunk mit obsessiver Hingabe vierzig- bis fünfzigjährige Männer mit Schnurrbart getötet und sie anschließend auf ausgesprochen ungewöhnliche Weise entsorgt hatte: Er zerschnitt sie in handliche Teile und verschickte sie farbenprächtig verpackt als Weihnachtsgeschenk an Polizeibeamte im Umkreis.
     
    Aufmerksam betrachtete Dave Gurney das blasse, friedliche Gesicht von Jason Strunk - genauer gesagt dessen offizielles Foto aus der Verbrecherdatei -, das ihn aus dem Computermonitor anstarrte. Das Porträt war auf Lebensgröße aufgeblasen und an den Rändern des Bildschirms von den Werkzeug-Icons eines Retuschierprogramms umgeben, in das sich Gurney erst noch einarbeiten musste.

    Er führte ein Tool für Helligkeitssteuerung zur Iris von Strunks rechtem Auge, klickte mit der Maus und begutachtete das kleine Glanzlicht, das er soeben gesetzt hatte.
    Besser, aber immer noch nicht richtig.
    Die Augen - und der Mund - waren stets am schwierigsten, aber auch absolute Schlüsselstellen. Manchmal experimentierte er stundenlang mit der Position und Intensität eines winzigen Glanzpunkts herum, und hatte am Ende nichts, womit er ganz zufrieden war und was er Sonya oder gar Madeleine vorlegen konnte.
    Das Besondere an den Augen war, dass sie mehr als alles andere die Spannung und Widersprüchlichkeit erfassten: den Hauch von Grausamkeit in der unscheinbaren Verschlossenheit, den Gurney oft bei den stundenlangen Befragungen im Gesicht von Mördern wahrgenommen hatte.
    Mit viel geduldigem Gefummel hatte er zum Beispiel dem Verbrecherfoto von Jorge Kunzman (dem Walmart-Lagerangestellten, der den Kopf seines jeweils jüngsten Opfers immer im Kühlschrank aufbewahrte, bis er ihn durch einen neuen ersetzen konnte) das richtige Aussehen abgerungen. Er war zufrieden mit dem Endprodukt, das mit verstörender Unmittelbarkeit die tiefe schwarze Leere zum Ausdruck brachte, die in Mr. Kunzmans gelangweilter Miene lauerte, und Sonyas überschäumendes Lob hatte ihn in seiner Meinung bestätigt. Diese Reaktion und der völlig unerwartete Verkauf der Arbeit an einen von Sonyas Sammlerfreunden hatten ihn zu der Reihe von kreativ manipulierten Fotos motiviert, die mittlerweile in einer Ausstellung mit dem Titel »Mörder, porträtiert von dem Mann, der sie gefasst hat« in Sonyas kleiner, aber hochkarätiger Galerie in Ithaca gezeigt wurden.

    Wie ein jüngst pensionierter Detective der New Yorker Mordkommission mit einem gähnenden Desinteresse an Kunst im Allgemeinen und Trendkunst im Besonderen sowie einer tiefen Abneigung gegen jedes Aufsehen um seine Person in den Mittelpunkt einer Kunstausstellung in einem schicken Universitätsstädtchen geraten konnte, die von lokalen Kritikern als »innovative Mischung aus ungeschminkt rohen Fotos, unerschrockenen psychologischen Einsichten und meisterhafter grafischer Bearbeitung« beschrieben wurde, war eine Frage mit zwei sehr verschiedenen Antworten: seiner eigenen und der seiner Frau.
    Was ihn betraf, hatte alles damit angefangen, dass Madeleine ihn dazu überredete, zusammen mit ihr einen Kunstkurs im Museum von Cooperstown zu besuchen. Immer wollte sie ihn herauslocken - aus seinem Bau, aus dem Haus, aus sich selbst, einfach heraus . Und er hatte die Erfahrung gemacht, dass er am besten die Strategie regelmäßiger Kapitulationen anwandte, um weitgehend Herr seiner Zeit zu bleiben. Auch die Teilnahme an dem Kunstkurs war ein taktisches Manöver dieser Art. Zwar graute ihm davor, aber er hoffte, damit zumindest ein oder zwei Monate lang gegen ähnliche Ansprüche gefeit zu sein. Dabei war er alles andere als ein Couch-Potato. Mit seinen siebenundvierzig Jahren konnte er immer noch fünfzig Liegestütze, Klimmzüge und Sit-ups machen. Er rannte nur nicht gern irgendwo in der Gegend herum.
    Doch der Kurs erwies sich als eine Überraschung - eigentlich sogar als drei Überraschungen auf einmal. Erstens die Kursleiterin. Entgegen
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