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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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aufgebrochen, um Arbeit zu suchen, und nie mehr zurückgekehrt. So ganz auf sich selbst gestellt, völlig mittel- und orientierungslos, verdankte sie ihr Überleben der Solidarität ihrer Mitbewohnerinnen.
    Tag für Tag fanden sich all diese Damen um den Brunnen zusammen und verbrachten einen Großteil ihrer Zeit damit, in der Vergangenheit zu rühren wie in einer offenen Wunde. Sie redeten über ihre beschlagnahmten Obstplantagen, die sanften, für immer verlorenen heimatlichen Hügelkuppen, die Angehörigen, die sie dort, im Land sämtlicher Schicksalsschläge, zurücklassen mussten und mit Sicherheit nie wiedersehen würden. Dann verzerrte der Kummer ihre Züge, und ihre Stimmen wurden brüchig. Wenn der Schmerz sie zu überwältigen drohte, legte Badra mit den haarsträubenden sexuellen Stümpereien ihres ersten Ehemanns los, und wie durch Magie fielen dietraurigen Erinnerungen von den Frauen ab, die sich alsbald vor Lachen am Boden wälzten. Gute Laune verdrängte die Bilder der Vergangenheit, und der Patio gewann einen Teil seiner Seele zurück.
    So wurde munter weiter gescherzt bis zum Einbruch der Dunkelheit. Manchmal nutzte Bliss, der Makler, die Abwesenheit der Männer aus, um sich im Patio zu spreizen wie ein Pfau. Kaum war draußen im Gang sein lautstarkes Räuspern zu vernehmen, stoben die Frauen davon. Der Makler stürmte in den verlassenen Innenhof, herrschte die Bälger an, die er nicht leiden konnte, griff jede Lappalie auf und beschimpfte uns als undankbares Gesindel, wenn er den leisesten Kratzer im Mauerwerk entdeckte. Heimtückisch wie eine Schmierlaus baute er sich vor der Behausung der schönen Hadda auf und drohte, uns alle miteinander auf die Straße zu setzen. Wenn er weg war, kamen die Frauen kichernd aus ihren Höhlen hervor, eher belustigt als eingeschüchtert von den Tiraden des Maklers. Bliss tönte wie ein Weltmeister, aber das war reine Schau. Nie hätte er sich mit seiner Rattenvisage hereingewagt, wäre auch nur ein einziger Mann, selbst bettlägerig oder sterbenskrank, im Patio gewesen. Badra war überzeugt, dass Bliss es auf Hadda abgesehen hatte. Die junge Frau war eine leichte Beute, wehrlos, verletzlich und angreifbar, da sie im Rückstand mit der Miete war. Der Makler übte Druck auf sie aus, damit sie seinem Drängen nachgab.
    Um mir Badras obszönes Geschwätz zu ersparen, erlaubte meine Mutter mir, mich auf der Straße umzusehen – falls man das eine Straße nennen konnte. Eigentlich war es ein Trampelpfad, beidseits von Blechhütten und hinfälligen Baracken gesäumt. Es gab nur zwei feste Gebäude: unseren Wohnhof und eine Art Stall, in dem sich mehrere Familien drängten. An der Ecke hatte der Barbier Stellung bezogen, ein schmächtiges Männchen unbestimmbaren Alters, nicht größer als eine Spargelstange, so dass die Platzhirsche sich weigerten, für seine Dienste zu zahlen. Sein Freiluftsalon bestand aus einer Muni tionskiste,die aus einem aufgelösten Militärdepot stammte, einer Spiegelscherbe, die einmal zu einer Schranktür gehörte, und einem aufgeweichten Brett, auf dem ein Stieltopf, ein ausgefranster Rasierpinsel, eine verbogene Schere und ein Sortiment unbrauchbarer Klingen thronten. Wenn er nicht gerade ein paar am Boden hockende Alte rasierte, lehnte er an seiner Munitionskiste und sang. Seine Stimme war heiser, die Wörter brachte er manchmal durcheinander, aber seine Art, Kummer und Leid zu beschwören, hatte etwas Ergreifendes. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können.
    Neben dem Barbier türmte sich ein kurioser Haufen, der sich »Lebensmittelladen« nannte. Der Inhaber hieß Holzbein. Er war ein »Goumier«, ein Veteran der französischen Kolonialarmee, der einen Teil seines Körpers auf dem Minenfeld ge lassen hatte. Zum ersten Mal im Leben sah ich ein Holzbein. Es beeindruckte mich ganz außerordentlich. Der Händler schien sehr stolz darauf zu sein; er schwenkte es beständig vor den Augen der Lausbuben, die um seine Einmachgläser herumstrichen.
    Holzbein fand in seinem Lebensmittelladen keine Erfüllung. Der Pulverdampf fehlte ihm, und die Atmosphäre der Kasernen. Er träumte davon, zur Armee zurückzukehren und es dem Feind so richtig zu zeigen. Solange sein Bein nicht nachwuchs, verkaufte er Schwarzmarktkonserven, Zuckerhüte und gestrecktes Öl. In seiner Freizeit betätigte er sich als Dentist. Ich habe ihm mehr als einmal dabei zugesehen, wie er Kindern mit einer rostigen Zange verfaulte Zahnstummel aus dem Kiefer zog; es war, als risse
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