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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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Bruder und bereit, dir jederzeit und in allem zu helfen … Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll«, fügte er hinzu und räusperte sich. »Ich fand es schon immer schwierig, mit dir zu reden. Ich habe immer Angst, dich zu kränken, dabei versuche ich doch nur, dein Bruder zu sein. Aber es ist vielleicht an der Zeit, dass du zuzuhören lernst, Issa. Mal eine andere Meinung anzuhören, das kann ja nicht schaden. Im Leben lernt man ständig dazu. Je mehr man zu wissen meint, desto weniger weiß man am Ende – so schnell, wie die Dinge sich ändern, und mit ihnen auch die Anschauungen.«
    »Ich werde es schon irgendwie schaffen …«
    »Das will ich gar nicht bezweifeln, Issa. Nicht eine Sekunde. Doch die besten Absichten führen zu nichts, wenn man keine Mittel hat, sie in die Tat umzusetzen. Der felsenfeste Glaube allein, der genügt nämlich nicht.«
    »Worauf willst du hinaus, Mahi?«
    Vor lauter Nervosität knetete mein Onkel seine Finger. Er suchte nach Worten, drehte und wendete sie in Gedanken hin und her, holte tief Luft und sagte schließlich:
    »Du hast eine Frau und zwei Kinder. Für jemanden, der mit leeren Händen dasteht, ist das ein Hemmklotz, es stutzt dir die Flügel.«
    »Das ist meine Familie.«
    »Auch ich bin deine Familie.«
    »Das ist nicht dasselbe.«
    »Doch, Issa, das ist es. Dein Sohn ist mein Neffe. In unseren Adern fließt das gleiche Blut. Vertrau ihn mir an. Du weißt ganz genau, dass er es zu nichts bringt, wenn er in deine Fußstapfen tritt. Was hast du denn mit ihm vor? Soll er Lastenträger werden, Schuhputzer, Eselstreiber? Man muss der Realität ins Auge sehen. Wenn er bei dir bleibt, wird nichts aus ihm. Dieser Junge muss zur Schule gehen, er muss lesen und schreiben lernen, er braucht eine anständige Erziehung. Ich weiß, ich weiß, die kleinen Araber sind nicht für die Schule gemacht.
    Mansieht es lieber, wenn sie auf den Feldern arbeiten oder die Herden hüten. Aber ich, ich könnte ihn zur Schule schicken und ihm eine gute Ausbildung mit auf den Weg geben … Ich bitte dich, versteh mich nicht falsch. Denk nur mal eine Minute nach. Der Junge hat, wenn er bei dir bleibt, nicht die geringste Zukunft.«
    Mit gesenktem Blick und zusammengebissenen Zähnen grübelte mein Vater eine halbe Ewigkeit über die Worte seines Bruders nach. Als er den Kopf wieder hob, war sein Gesicht nur noch eine blutleere Maske. Und mit Grabesstimme sagte er:
    »Du begreifst rein gar nichts, mein Bruder. Das wird sich wohl nie ändern.«
    »So darfst du es nicht auffassen, Issa.«
    »Sei still … Ich bitte dich, mach es nicht noch schlimmer. Ich bin nicht so gebildet wie du, und ich bedauere das. Aber wenn Bildung darin besteht, den anderen in Grund und Boden zu stampfen, dann verzichte ich gerne darauf.«
    Mein Onkel versuchte noch etwas zu sagen, doch mein Vater machte eine abwehrende Handbewegung. Er zog den Geld schein aus der Tasche und legte ihn auf den Ladentisch.
    »Dein Geld will ich auch nicht mehr.«
    Dann packte er mich mit einem Ingrimm am Arm, dass es mir fast die Schulter ausgekegelt hätte, und schob mich auf die Straße hinaus. Mein Onkel lief uns nach, wagte es aber nicht, uns einzuholen, und blieb wie angewurzelt vor seinem Laden stehen, in der Gewissheit, dass der Fehler, den er da begangen hatte, ihm nie im Leben verziehen werden würde.
    Mein Vater lief nicht, er polterte wie ein Felsblock den Hügel hinunter. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Es fehlte nicht viel, und er wäre explodiert. In seinem Gesicht zuckte und bebte es, sein Blick schien die Welt unter die Erde zwingen zu wollen. Er sagte kein Wort, doch sein brodelndes Schweigen verriet eine solche innere Anspannung, dass ich das Schlimmste befürchtete.
    Nachdemwir eine geraume Weile gelaufen waren, presste er mich gegen eine Mauer und sah mir tief in die Augen; er schien wahnsinnig, ich war voller Angst. Hätte mich eine Schrotladung erwischt, es hätte mich nicht brutaler durchrütteln können.
    »Glaubst du auch, dass ich ein Habenichts bin, ein armseliger Wicht?«, sprach er rasselnd. »Glaubst du, dass ich einen Jungen in die Welt gesetzt habe, um ihn auf kleiner Flamme krepieren zu sehen? Wenn du das glaubst, dann bist du auf dem Holzweg. Und dein falscher Onkel von Bruder ist auch auf dem Holzweg. Weißt du warum? Ich habe vielleicht die Flinte ins Korn geworfen, aber ins Gras gebissen habe ich noch lange nicht. Ich lebe, und ich sprühe vor Energie. Ich habe eine eiserne Gesundheit, Arme, mit denen
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