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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht
Autoren: Yasmina Khadra
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er ihnen das Herz aus dem Leib.
    Es gab auch ein Stück freies Feld, eine Art Niemandsland, das sich in Macchia-Gestrüpp verlor. Dorthin hatte ich mich eines Morgens unversehens vorgewagt, während ich gebannt das Gefecht verfolgte, das sich zwei gegnerische Jugendbanden lieferten, die eine unter dem Kommando von Daho, einem wilden Kerl mit kahlrasiertem Schädel und einem Büschel Kraushaar auf der Stirn, die andere unter der Befehlsgewalt eines jun genMannes, der geistig behindert zu sein schien, sich aber für einen großen Eroberer hielt. Mit einem Mal rutschte mir der Boden unter den Füßen weg: Ich wurde von wirbelnden Armen gepackt und war meine Schuhe, meine Gandura und meine Scheschia schneller los, als ich begreifen konnte, wie mir geschah. Sie wollten mich in die Büsche zerren und … meiner Mannesehre berauben . Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, der Meute zu entkommen. Jedenfalls war ich zutiefst erschüttert und habe nie wieder einen Fuß in diese verdammte Gegend gesetzt.
    Mein Vater schuftete wie ein Galeerensklave, doch es brachte ihm nichts ein. Die Frühaufsteher waren Legion, und jede Art von Beschäftigung Mangelware. Zu groß war die Zahl der Elenden, die mit nichts auf den Rippen auf den Müllhalden krepierten, und die Überlebenden hatten keine Hemmungen, sich wegen eines ranzigen Brotbrockens an die Gurgel zu gehen. Die Zeiten waren hart, und die Stadt, die aus der Ferne so viele Hoffnungen aufflackern ließ, erwies sich als furchtbare Bauernfalle. Wohl zehn Mal zog mein Vater los, und nur einmal gelang es ihm, Arbeit zu finden, Akkordarbeit, deren Lohn kaum für ein Stück Rasierseife reichte. An manchen Abenden konnte er sich, wenn er nach Hause kam, kaum auf den Beinen halten, seine Züge waren völlig aufgelöst, sein Rücken wies Striemen vom Gewicht der zahllosen Lasten auf, die er von früh bis spät auf- oder abladen musste. Er war so übel dran, dass er nur noch auf dem Bauch schlafen konnte. Er war erschöpft, vor allem aber verzweifelt. Seine Beharrlichkeit wurde schleichend vom Zweifel zersetzt.
    So vergingen die Wochen. Mein Vater magerte zusehends ab. Er wurde immer jähzorniger, und stets fand er einen Vorwand, seine Wut an meiner Mutter auszulassen. Er schlug sie nicht; er begnügte sich damit, sie anzubrüllen, und meine Mutter senkte in stoischer Ergebenheit den Kopf und schwieg. Die Dinge glitten uns aus den Händen und vergifteten unsere Nächte. Mein Vaterfand keinen Schlaf mehr. Er murmelte unablässig vor sich hin und schlug die Hände zusammen. Ich hörte, wie er im Dunkel der Nacht ruhelos im Zimmer auf und ab lief. Manchmal ging er auch in den Hof hinaus und blieb dort bis Tagesanbruch am Boden sitzen, das Kinn zwischen den Knien vergraben, die Arme um die Beine geschlungen.
    Eines Morgens befahl er mir, eine weniger abgetragene Gandura überzustreifen, und nahm mich zu seinem Bruder mit. Mein Onkel war in seiner Apotheke gerade damit beschäftigt, die Fläschchen und Schachteln in den Regalen neu zu ordnen.
    Mein Vater hat lange gezögert, bevor er die Apotheke betrat. Stolz und verlegen, wie er war, druckste er eine Weile herum, bevor er auf den Grund seines Besuchs zu sprechen kam: Er brauchte Geld … Mein Onkel griff sofort in die Schublade, als hätte er nur darauf gewartet, und holte einen großen Geldschein hervor. Mein Vater starrte gequält auf den Schein. Mein Onkel begriff, dass mein Vater keineswegs die Hand ausstrecken würde. Er kam um den Tresen herum und steckte ihm das Geld in die Tasche. Mein Vater war wie versteinert, sein Nacken tief gebeugt. Mit kaum hörbarer Stimme quetschte er ein »Danke« hervor.
    Mein Onkel kehrte hinter seinen Tresen zurück. Man sah es ihm an, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte, aber er wagte es nicht, offen zu sprechen. Er ließ meinen Vater nicht aus den Augen, und seine hellen, sauberen Finger trommelten nervös auf das Tresenholz ein. Nachdem er Für und Wider lange gegeneinander abgewogen hatte, nahm er seinen Mut in beide Hände und sagte:
    »Ich weiß, wie hart es ist, Issa. Aber ich weiß auch, dass du es schaffen kannst … wenn du mir erlauben würdest, dir ein wenig zu helfen.«
    »Ich werde dir alles bis auf den letzten Centime zurückzahlen«, versprach ihm mein Vater.
    »Darum geht es nicht, Issa. Du kannst es mir zurückzahlen, wann immer du willst. Von mir aus müsstest du das auch gar nicht.Ich würde dir gern noch viel mehr vorstrecken. Das ist kein Problem für mich. Ich bin dein
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