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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer
Autoren: Ann Benson
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Augenblick sind, angesichts dessen, was ans Tageslicht kam, unsere Herzen sehr verwundbar. Dass er meinen Bruder umbrachte, ist die schlimmste Wunde, die er mir zufügen konnte.«
    »Ich glaube, dass vielleicht die erste Wunde, die er dir zufügte, ähnlich schwer war«, sagte ich. »Dergestalt verfolgt und bedroht zu werden und gezwungen zu werden, zu berühren … sich … hinzugeben …«
    Ich weinte innerlich; denn ich hatte keine Tränen mehr, die nach außen treten konnten. Ich brachte die nächsten Sätze kaum heraus, es war nur das dünnste Flüstern: »Seine Leibesöffnung widernatürlich hinzugeben. Mein lieber Jean, was gäbe ich nicht alles, um die Zeit zurückdrehen zu können. Wir hätten diesen bösen Ort verlassen und irgendwo anders hingehen können.«
    »Um was zu tun, Mère? Land zu bestellen? Vater war weder Bauer noch Hirte. Er war ein Soldat, und Soldaten ohne Anstellung werden Räuber, damit sie ihre Familien ernähren können. Das hätte ich nie zulassen können. All unsere Hoffnungen und Träume, meine Ausbildung, Michels eigene Hoffnung auf eine Soldatenlaufbahn, all das wäre dahin gewesen.«
    Er hatte natürlich Recht. Er hatte jeden geschützt, den er liebte, und alles, was ihm teuer war. Aber es hätte nicht sein dürfen, dass er es tun musste. Dass er ein so ehrbares Leben führte, wie er es tat, war nach dem, was ihm angetan wurde, ein Wunder.
    »Komm«, sagte ich. Ich erhob mich von der harten Steinbank im Hof, auf die wir uns gesetzt hatten. Der Oktoberwind hatte aufgefrischt, und alles an mir war kalt – die Finger, die Zehen, die Nase.
    »Wir wollen unsere Sorgen hinter uns lassen und Freude suchen.«
    Zu diesem Zwecke machten wir uns auf die Suche nach Frère Demien. Der gärtnernde Priester hatte uns sofort nach dem Ende der Gerichtssitzung verlassen, um das Sortieren der Äpfel zu überwachen. Die vollkommensten würden im Kühlkeller gelagert werden, damit man sich im Winter an ihnen laben konnte. Solche, die das Pech hatten, Druckstellen aufzuweisen, würden in die Presse geschickt werden, wo man ihnen den Saft entzog, der dann in Eichenfässern reifte, bis er vergoren war. Ach, hätte ich nur ein Glas oder zwei dieser Köstlichkeit, um die Erinnerung an die Ereignisse dieses Tages zu lindern.
    Das Erntehaus roch wunderbar, als wir eintraten, die Luft war viel wärmer als die draußen, die schon die Kälte des Spätherbstes und das Versprechen eines kalten Winters mit sich brachte. Überall standen Fässer und Tröge mit Äpfeln. Frère Demien hatte einige besonders schöne und auffallend rote Früchte ausgewählt und sie beiseite gelegt. Ich nahm einen Apfel zur Hand und bewunderte ihn.
    »Für den morgendlichen Teller Seiner Eminenz?«, fragte ich.
    »Und für Herzog Jeans Keller«, erwiderte er.
    Ich ließ den Blick durchs Erntehaus schweifen. »Es geht recht gut voran«, sagt er, »obwohl wir dieses Jahr einige Ablenkungen hatten.« Er nahm beiläufig einen Apfel aus einem Fass und legte ihn in ein anderes. »Ich habe der Ernte nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet, wie ich es hätte tun sollen. Natürlich machen die Brüder und Schwestern auch ohne mich weiter, und zwar auf sehr löbliche Art, aber meine Augen hätten die Arbeit noch erfolgreicher gemacht.«
    Mit anderen Worten, wäre er da gewesen, um sie zu überwachen, müsste er jetzt nicht Äpfel aus einem Fass in ein anderes legen.
    »Es war eine ungewöhnliche Ernte«, sagte ich. »Ein ungewöhnliches Jahr.«
    »Und mögen wir kein solches Jahr mehr erleben«, fügte Frère Demien hinzu. »Aber ich darf wohl sagen, dass es noch denkwürdiger werden wird, und zwar schon bald.«
    »Wie das?«, fragte ich.
    »Ich habe gehört, dass Milord Gilles noch einmal mit Seiner Eminenz und l’Hôpital reden will. Er möchte verhandeln.«
    »Was kann denn jetzt noch verhandelt werden?«
    »Sein Tod.«
    »Aber natürlich wird er hingerichtet werden. Eine reine Kerkerstrafe käme Seiner Eminenz nie in den Sinn.«
    »Selbstverständlich«, sagte Frère Demien. »Das steht außer Frage. Aber soweit ich erfahren habe, möchte er die Art seines Todes weniger qualvoll machen.«
    Zorn erfüllte meine Seele; ich hoffte, dass man es nicht sah. Doch offensichtlich war es zu sehen, denn die beiden jungen Priester, mein Sohn und Frère Demien, schauten mich erstaunt an.
    Eilig zog ich mir wieder die Kapuze über den Schleier und wandte mich ohne ein weiteres Wort zur Tür. Dann war ich draußen und rannte aufs Schloss zu, bevor Jean auch
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