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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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seinen Erlöser und Wohltäter wie einen unermesslich wertvollen Schatz vor.
    Feierlich schüttelten sie sich die Hand. »Ich freue mich kolossal, dass es Ihnen bessergeht«, sagte Anthony.
    Mit einer Miene, als habe er seinen Enkel erst letzte Woche gesehen, zog Patch der Ältere seine Uhr hervor.
    »Zug verspätet?«, fragte er nachsichtig.
    Es hatte ihn geärgert, auf Anthony warten zu müssen. Er lebte nicht nur in dem Wahn, in seiner Jugend allen praktischen Angelegenheiten mit äußerster Gewissenhaftigkeit nachgegangen zu sein, ja jede Verabredung auf die Minute pünktlich eingehalten zu haben, sondern wiegte sich auch in dem Glauben, dies sei genau und hauptsächlich der Grund für seinen Erfolg gewesen.
    »Diesen Monat hat er sich ziemlich oft verspätet«, bemerkte er mit einem Anflug sanften Vorwurfs in der Stimme – dann sagte er nach einem langen Seufzer: »Setz dich.«
    Anthony musterte seinen Großvater mit jener stillschweigenden Verwunderung, die sich bei seinem Anblick stets einstellte. Besaß doch dieser kraftlose, unintelligente alte Mann eine solche Macht, dass diejenigen Männer der Republik, deren Seelen er nicht mittelbar oder unmittelbar hätte kaufen können, White Plains nur spärlich bevölkert hätten – da konnten die Revolverblätter schreiben, was sie wollten. Dies erschien ihm ebenso unglaublich wie die Tatsache, dass er früher einmal ein rosiger Säugling gewesen sein musste.
    Die Spanne seiner fünfundsiebzig Jahre hatte wie ein [26] magischer Blasebalg gewirkt – das erste Vierteljahrhundert hatte ihn mit Leben vollgepumpt, und das letzte hatte es wieder aus ihm herausgesogen. Es hatte Wangen und Brustkorb einsinken lassen und den Umfang von Armen und Beinen verringert. Tyrannisch hatte es ihm einen Zahn nach dem anderen abgefordert, seine kleinen Äuglein in dunkelbläulichen Tränensäcken versteckt, ihm die Haare ausgerissen, ihn an einigen Stellen von Grau in Weiß, an anderen von Rosa in Gelb verwandelt – rücksichtslos seine Farben aufgetragen wie ein Kind, das sich an einem Malkasten zu schaffen macht. Nach seinem Körper und seiner Seele war es über sein Gehirn hergefallen. Es hatte ihm nächtliche Schweißausbrüche, Tränen und grundlose Ängste beschert. Seine ausgeprägte Durchschnittlichkeit hatte es in Leichtgläubigkeit und Argwohn aufgespalten. Aus dem groben Stoff seiner Begeisterungsfähigkeit hatte es Dutzende bescheidener, aber griesgrämiger Obsessionen zugeschnitten; seine Energie war auf die schlechte Laune eines verwöhnten Kindes geschrumpft, sein Wille zur Macht dem törichten Verlangen eines Knaben nach einem Land von Harfenspiel und Lobgesängen auf Erden gewichen.
    Nachdem man so behutsam das Thema Verkehrsverbindungen gestreift hatte, beschlich Anthony das Gefühl, es werde von ihm erwartet, dass er in Umrissen seine Absichten darlege – zugleich aber warnte ihn einstweilen ein Funkeln in den Augen des Alten davor, seinen Wunsch auszusprechen, im Ausland zu leben. Er wünschte, Shuttleworth besäße genügend Takt, den Raum zu verlassen – er verabscheute Shuttleworth –, doch der Sekretär hatte sich gleichgültig in einem Schaukelstuhl niedergelassen und ließ die [27] Blicke seiner glanzlosen Augen von einem Patch zum anderen wandern.
    »Wo du nun schon einmal hier bist, solltest du etwas tun «, sagte sein Großvater sanft, »etwas zustande bringen.«
    Anthony wartete darauf, dass er sagte: »Etwas Fertiges hinterlassen, wenn du von hinnen gehst.« Dann machte er einen Vorschlag: »Ich dachte – es schien mir, dass ich vielleicht am besten dazu tauge, etwas zu schreiben…«
    Adam Patch zuckte zusammen; er stellte sich einen Dichter in der Familie mit langer Mähne und drei Geliebten vor.
    »…über Geschichte zu schreiben«, schloss Anthony.
    »Über Geschichte? Was für eine Geschichte? Die des Bürgerkriegs? Der Revolution?«
    »Aber nein, Sir. Eine Geschichte des Mittelalters.« In diesem Augenblick war die Idee zu einer Geschichte der Renaissancepäpste geboren, unter einem neuen Blickwinkel verfasst. Dennoch war er froh, »Mittelalter« gesagt zu haben.
    »Mittelalter? Weshalb nicht über dein eigenes Land? Etwas, worüber du Bescheid weißt?«
    »Sie verstehen, ich habe so lange im Ausland gelebt…«
    »Ich weiß nicht, weshalb du ausgerechnet über das Mittelalter schreiben willst. Finsteres Mittelalter, haben wir immer dazu gesagt. Niemand weiß, was sich abgespielt hat, und niemand macht sich etwas daraus, wichtig ist bloß,
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