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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Kenner des guten Tons und [14] Tandemfahrer – seine Memoiren unter dem Titel Meine Erlebnisse in der New Yorker Gesellschaft begann er im erstaunlichen Alter von sechsundzwanzig Jahren. Als sich die Idee zu diesem Werk herumsprach, machten die Verlage eifrig Angebote; da es jedoch, wie sich nach seinem Tod herausstellte, übermäßig langatmig und überwältigend langweilig war, kam es nicht einmal als Privatdruck heraus.
    Mit zweiundzwanzig trat dieser Chesterfield der Fifth Avenue in den Ehestand. Seine Frau war die Altistin Henrietta Lebrune, die Bostoner Salon-Sängerin, und auf Bitten des Großvaters wurde das einzige Kind dieser Verbindung auf den Namen Anthony Comstock Patch getauft. Als er nach Harvard ging, fiel der Name Comstock weg, geriet in die Vergessenheit des Hades und ward seitdem nie mehr gehört.
    Der junge Anthony besaß ein Bildnis von seinen Eltern – als Kind hatte er es so oft vor Augen gehabt, dass es die Unpersönlichkeit von Möbelstücken angenommen hatte, doch jeder, der in sein Schlafgemach trat, betrachtete es mit Interesse. Es zeigte einen Dandy der Neunziger, schlank und ansehnlich, der neben einer hochgewachsenen, dunkelhaarigen Dame mit Muff und der Andeutung einer Turnüre stand. Zwischen ihnen war ein kleiner Junge mit langen braunen Locken zu sehen, angetan mit einem Samtanzug à la Lord Fauntleroy. Das war Anthony mit fünf, im Sterbejahr seiner Mutter.
    Seine Erinnerungen an die Bostoner Salon-Sängerin waren verschwommen und von Musik geprägt. Sie war eine Dame, die im Musikzimmer ihres Hauses am Washington Square sang, sang und abermals sang – zuweilen saßen Gäste [15] um sie her, die Männer wippten mit verschränkten Armen und angehaltenem Atem auf Sofakanten, die Frauen hatten die Hände in den Schoß gelegt und raunten den Männern gelegentlich etwas zu, applaudierten stets sehr lebhaft und stießen nach jedem Lied leise Schreie des Entzückens aus – oft sang sie auch für Anthony allein, auf Italienisch, Französisch oder in einem seltsamen und entsetzlichen Dialekt, den sie für die Mundart der Südstaatenneger hielt.
    Seine Erinnerungen an den ritterlichen Ulysses, den ersten Mann in Amerika, der seine Mantelaufschläge hochstellte, waren sehr viel lebhafter. Nachdem Henrietta Lebrune Patch »einem anderen Chor beigetreten« war, wie ihr Witwer von Zeit zu Zeit mit heiserer Stimme bemerkte, wohnten Vater und Sohn beim Opapa in Tarrytown, und täglich kam Ulysses in Anthonys Schlafzimmer und brachte mitunter fast eine Stunde lang angenehm vollmundige Worte hervor. Ständig versprach er Anthony Jagdreisen und Angelfahrten und Ausflüge nach Atlantic City – »ah, jetzt ist es bald so weit« –, doch keine dieser Unternehmungen wurde jemals durchgeführt. Eine Reise freilich kam zustande: Als Anthony elf war, fuhren sie ins Ausland, nach England und in die Schweiz, und dort, im besten Hotel Luzerns, schwitzend, ächzend und laut nach Luft japsend, starb sein Vater. Von Verzweiflung und Entsetzen gepackt, wurde Anthony nach Amerika zurückgebracht, wo er sich einer düsteren Schwermut vermählte, die bis ans Ende seiner Tage nicht mehr von ihm weichen sollte.
    [16] Vergangenheit und Persönlichkeit des Helden
    Mit elf graute ihm vor dem Tod. Innerhalb von sechs für Eindrücke besonders empfänglichen Jahren waren seine Eltern gestorben, und seine Großmutter war fast unmerklich dahingewelkt, bis sie endlich, zum ersten Mal seit ihrer Heirat, einen Tag lang die unbestrittene Herrschaft über ihren Salon ausübte. So war das Leben für Anthony ein Kampf gegen den Tod, der an jeder Ecke lauerte. Seiner hypochondrischen Einbildungskraft zuliebe nahm er die Gewohnheit an, im Bett zu lesen – es beruhigte ihn. Er las, bis ihm die Augen zufielen, und schlief oft ein, ohne das Licht zu löschen.
    Bis zum Alter von vierzehn Jahren war sein liebster Zeitvertreib seine riesige Briefmarkensammlung, die so weitgehend vollständig war, wie es die eines Jungen sein konnte – törichterweise bildete sein Großvater sich ein, ihm auf diese Weise Geographie beibringen zu können. So pflegte Anthony Korrespondenz mit einem halben Dutzend Firmen für Briefmarken und Münzen, und fast täglich brachte ihm der Postbote neue Briefmarkenalben oder Packungen mit glänzenden Probebogen. Seine Erwerbungen unaufhörlich von einem Album ins andere umzustecken, übte einen geheimnisvollen Zauber auf ihn aus. Seine Marken waren sein größtes Glück, und jeden, der ihn bei seinem Spiel
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