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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman
Autoren: Simone Neumann
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schweißgebadet saß Inga auf ihrem Lager.
    War alles ein Traum?
    Oder war die Erscheinung wahrhaftig gewesen?
    Die weiße Frau war durch die Stalltür gekommen, langsam, leise, fast schwebend. Und dann war sie vor ihr, der schlafenden Inga, stehengeblieben und hatte sie lange angeschaut, um schließlich in der Dunkelheit des Raumes zu verschwinden.
    Inga atmete schwer, zitternd fuhren ihre Hände über die Schlafstelle an ihrer Seite. Sie war leer. Er war noch nicht zurück. Oder er lag bei der anderen.
    Wer war diese weiße Gestalt?
    Es musste eine Fylgje gewesen sein, ein Schutzgeist, ein Geist, der vor Bösem warnte. Ihre Großmutter hatte eine solche gesehen, in der Nacht, bevor der Großvater getötet worden war. Und jetzt war auch Inga eine begegnet. Irgendetwas war geschehen, das spürte Inga. Mit ihm war etwas geschehen.
    Vorsichtig verließ sie ihr Lager. Mit nackten Füßen, bloß in ihren wollenen Umhang gehüllt, schlich sie hinüber zu der anderen. Inga konnte nur erahnen, wo das verhasste Weib lag, doch den Umrissen nach zu urteilen, die in der Dunkelheit des einzigen Raumes dieses riesigen Langhauses schwer auszumachen waren, lag sie allein. Allein mit ihrem dicken Bauch, in dem sie sein Kind trug.
    Auch alle Übrigen schliefen tief und fest. Weit mehr als ein
Dutzend Leute, Männer, Frauen, Kinder, alt oder jung, frei oder unfrei. Alle in diesem einen Raum, in diesem einen Haus, unter dem schützenden Dach der noch jungen Hilgerschen Sippe.
    Aber er war nicht da, war nicht zurückgekehrt.
    Inga ging, sich behutsam vortastend, in Richtung des Stalles, dorthin, wo die vierzehn Rinder und drei Pferde standen. Doch auch Bless war nicht da. Ihr Platz war leer, ihr Heu lag unangerührt dort, verströmte einen verführerischen Duft und ließ die beiden anderen Pferde nervös an den Hanfseilen zerren, die sie davon abhielten, an das begehrte Futter zu gelangen.
    Inga entriegelte die Tür und ging hinaus. Die Nacht war sternenklar, der Mond schien voll vom Himmel, und es herrschte absolute Stille. Der Herbstwind hatte sich gelegt, und auch die Stimmen des nahen Waldes waren verstummt. Ohne den kalten und nassen Boden unter ihren Füßen zu bemerken, ging Inga auf den Wald zu. Sie verließ das umfriedete Grundstück und stapfte vorsichtig hinunter in den Hohlweg, den natürlichen, meist matschigen Pfad, der, von Schmelz- und Quellwasser gegraben, direkt ins Tal zum einst riesigen Gehöft des Freien Liudolf führte.
    Dorthin wollte er an diesem Abend reiten, dort wollte er im Hause des Liudolf sitzen und mit diesem und weiteren Freien aus der Gegend Unmengen an Bier trinken.
    Das musste sie nicht verwundern, denn es kam häufig vor. Und ebenso wenig ungewöhnlich war, dass er die ganze Nacht fortblieb.
    Von einem dieser Trinkgelage hatte er vor wenigen Monaten dieses Weib mit nach Hause gebracht. Hatte sie seiner Familie als sein »Friedelweib«, seine Nebenfrau, vorgestellt. Hatte sich nicht darum gekümmert, dass die Kirche diese Unsitte verbot. Denn, so hatte er gelacht, deren Kaiser Karl habe es mit den Weibern nicht anders getrieben.

    Grundsätzlich kümmerte er sich nicht um das, was der neue Glaube den Menschen vorschrieb, er hielt sich lieber an die Traditionen seiner Vorväter. Und eine dieser Traditionen war es, sich allmonatlich im Hause des Liudolf bis zur Besinnungslosigkeit zu besaufen.
    Doch heute war etwas anders als sonst, Inga spürte es. Er war alleine fortgeritten, ohne seine Brüder, die ihn sonst begleiteten. Und dann war ihr im Schlaf der warnende Geist der weißen Frau erschienen. Es musste etwas passiert sein.
    Schwarz erhob sich der bewaldete Berg zu ihrer rechten Seite. Inga vermied es, ihren Blick in Richtung dieses dunklen Lochs zu wenden. Lieber schaute sie auf den Weg, der sich im Schein des Mondes vor ihren Füßen durch eine tiefe, aber breite Mulde dahingrub. Am meisten fürchtete sie die Wölfe. Es hatte in diesem Herbst bereits zwei Übergriffe gegeben. Sehr früh für die Jahreszeit, denn eigentlich kamen sie erst mit dem Schnee in die Dörfer und auf die Höfe, um das Vieh zu stehlen. Drei Hühner und ihren geliebten Hofhund hatten sie einbüßen müssen. Ihr wurde mulmig, wenn sie daran dachte, wie viele gelbe Augen wohl nun im Schutze des Waldes ihren Blick auf sie richteten und nur den günstigsten Moment abwarteten. Über all die anderen Unholde, die des Nachts ihr Unwesen im Walde trieben, wollte sie besser gar nicht nachdenken. Unwillkürlich griff sie nach dem
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