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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman
Autoren: Simone Neumann
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Schwangeren eine schallende Ohrfeige gab.
    »Verschwinde aus diesem Haus«, sagte sie ruhig, aber laut. »Du hast hier nichts mehr verloren. Du nicht, und dein Bastard erst recht nicht.«
    Der alte Ulrich nickte zustimmend. Die Schwestern Berta und Gisela, bis dahin stumm vor Schreck, kicherten leise. Gernot sah beschämt zu Boden, und Ansgar blickte seine Frau streng an. Inga nahm langsam ihre Hände von den Ohren, stand auf und ging hinaus.
     
    Sie steuerte auf die Stelle zu, in der sich der Hohlweg zu einer breiten Quellmulde formte. Die Stelle, die den jungen Hilger ermutigt hatte, als Erbe eines nur kleinen Familienzweiges seinen Sippenverband im Tal zu verlassen und sich hier, am Hang eines finster bewaldeten Berges, auf steinigem und zugleich sumpfigem Grund einen eigenen Hof zu errichten. Einen mittlerweile enormen Hof, ertragreicher noch als das Stammgehöft, welches sich seit der Frankenherrschaft aufzulösen
begann und mit Liudolf einen zwar starken, aber bei weitem nicht so eigenwilligen und freiheitsliebenden Herrn hatte, wie es einst Hilger gewesen war.
    Der Herbstmorgen war sonnig und überraschend warm. Inga ging bis zu der Stelle, wo sich jetzt, zu dieser Jahreszeit, wieder reichlich Wasser in einer von Menschenhand erschaffenen Grube sammelte. Dort setzte sie sich auf einen Baumstamm, den Blick nicht nach hinten, zum Grund der Hilgerschen Sippe, gerichtet, sondern nach vorn, in den Herbstwald, der sein Laub zu verlieren begann.
    Wäre sie ein Vogel, so dachte sie, könnte sie sich nun erheben und einfach geradeaus davonfliegen. Über den bewaldeten Berg, durch das Tal, über den sprudelnden Bach und hinauf auf den nächsten, größeren Berg, den Berg, auf dem sie ihre Kindheit verbracht hatte.
    Sie würde direkt auf dem Dach ihres Elternhauses landen, würde ihre Mutter beobachten, wie sie mittlerweile alt und grau vor dem Haus in der Sonne saß und ein Huhn rupfte. Sie könnte ihren Bruder wiedersehen, der das Heu wendete. Und ihren Vater, der mürrisch und griesgrämig in Richtung Norden schaute – dorthin, wo die verhassten Hilgerschen lebten. Die, die ihm den Vater ermordet hatten, als er noch ein Kind war, und ihm später seine älteste Tochter geraubt hatten.
    Wie gerne wäre Inga nun zurück zu ihrer Familie gegangen. Doch sie konnte nicht. Niemals würden sie sie wieder aufnehmen, nicht nach alldem, was vorgefallen war. Vorgefallen in so vielen Jahren, ja Jahrzehnten des Hasses zwischen diesen beiden freien Bauernsippen.
    Sie hatten sich gegenseitig die Felder verwüstet, einander das Vieh vergiftet, Flüche waren ausgesprochen, Schadenszauber ausgeführt worden. Ja, es hieß sogar, Ingas Großmutter habe den Stier behext, der den Mörder ihres Mannes letztendlich
totgetreten hatte. Und dann war Inga gekommen und hatte erneut Schmach über ihre Familie gebracht.
    Sie hatte die Familie entehrt, hatte sich einfach entführen lassen von diesem lauten und groben Rothger, Sohn des Totschlägers Hilger. Eine trächtige Sau hatte Rothger den Meinradschen an den Zaun gebunden. Das sollte der Preis für die verlorene Tochter sein. Eine Beleidigung, eine Beleidigung auch für Inga. Doch damals war sie blind und dumm gewesen.
    Nie würde es für eine wie sie einen Weg zurück geben.
    Sie hatte Rothger anfangs geliebt. Doch mit den Jahren war diese Liebe zunächst in Gleichmut und dann in Hass umgeschlagen.
    Er wollte ihr nicht verzeihen, dass es ihr nicht gelang, ihm einen gesunden Erben zu schenken. Nicht einmal ein Mädchen hatte sie lebendig zur Welt bringen können. Vier Mal waren ihre Schwangerschaften vor der Zeit zum Ende gekommen, vier Mal hatte sie viel zu kleine, nicht lebensfähige Kinder geboren.
    Das war Rothger zu viel. Ganz gleich, wie jung, schön und begehrenswert seine Frau auch war – sie war unfruchtbar und damit für ihn nahezu wertlos. Doch gehasst hatte Inga ihn erst ab dem Moment, als er die Zweite mit ins Haus brachte – die feile Dirne.
    Immerhin – und da musste sie ihm bei all der Demütigung dankbar sein – hatte er sie nicht verstoßen. Und das lag nicht daran, das Rothger, Sohn des Hilger, etwa ein anständiger Mann war oder sich gar nach den Regeln des christlichen Glaubens richtete, wonach der Stand der Ehe unauflöslich war. Nein, vielmehr brauchte er Inga. Er brauchte sie, weil nur sie genau wusste, wie hoch der verfluchte Zehnte veranschlagt war, den sie mehrmals im Jahr an die Kirche abliefern mussten, weil sie es war, die den Überblick über all ihre
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