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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman
Autoren: Simone Neumann
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Holzkreuz, das sie an einem Band um den Hals trug und in welches sie vorsichtshalber, natürlich auf der Rückseite, eine Schutzrune hineingeritzt hatte.
    Da! An der Stelle, wo der Hohlweg sich unter der Obhut dreier Linden scharf in Richtung der Siedlung wand, stand etwas. Ein heller Schatten, ein Tier. Es bewegte sich nicht. Inga blieb stehen und versuchte ihren Blick zu schärfen. Es war ein weißes Pferd – ein weißes, reiterloses Pferd.

    »Bless!«, rief sie mit gedämpfter Stimme, und es dauerte nicht lang, da trottete das Tier ängstlich wiehernd auf sie zu.
    »Bless, wo ist er? Hast du ihn abgeworfen?« Inga war erleichtert. Wahrscheinlich lag er betrunken im Gebüsch. So kalt, dass er dabei erfrieren könnte, war es glücklicherweise in dieser Nacht noch nicht.
    »Komm, mein Mädchen, bring mich zu ihm.« Inga streichelte die Nüstern des Pferdes und schwang sich dann etwas umständlich auf seinen Rücken. Ohne ihr Zutun machte das zottelige, kleine Tier sofort kehrt und trottete mit seiner Reiterin den dunklen, holprigen Weg entlang. Inga war nicht geübt auf dem Rücken von Pferden, sie hatte genug damit zu tun, sich festzuhalten, und sicherlich wäre sie jäh hinuntergestürzt, wenn Bless nicht selbstständig vor Erreichen der Blitzeiche, von der ein dicker Ast bedrohlich tief über den Weg ragte, zum Stehen gekommen wäre.
    »Komm weiter, Bless, ich ziehe den Kopf ein. Das geht schon.« Doch das Pferd wehrte sich, es riss an den Zügeln und warf den Kopf immer wieder so hart von oben nach unten, dass Inga nichts anderes übrigblieb, als abzusteigen.
    Und dann erblickte sie ihn.
    Er lag unmittelbar vor den Hufen des Pferdes im schwarzen Schatten eines Dornbusches. Schnell beugte sie sich zu ihm herab und versuchte in der Dunkelheit seinen Zustand zu erkunden.
    Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn und rührte sich nicht.
    »Aufwachen, du Trunkenbold!«, rief Inga barsch. »Aufwachen!«
    Keine Reaktion.
    Sie fasste ihn bei den Schultern und versuchte ihn ein wenig aufzurichten. Es war unglaublich schwierig für eine zierliche Frau wie sie, diesen riesigen Mann zu bewegen. Doch als sie
endlich seinen Oberkörper ein kleines Stück zu sich gezogen hatte, fiel es ihr auf: Sein Kopf war unnatürlich verdreht und schien nur noch von der Haut und den Sehnen am Körper gehalten zu werden. Das Genick war gebrochen.
    Inga war starr vor Schreck. Sie ließ seinen toten Körper langsam zu Boden sinken, richtete sich auf und ging, stumm und mit kleinen Schritten, zurück zum Hof.
     
    Als sie das Haus betrat, brannte bereits ein Feuer. Ada saß an der wärmenden Ofenstelle und stillte ihr jüngstes Kind. Sie war einige Jahre älter als Inga, jedoch die Frau des Zweitgeborenen, des jüngeren Bruders – nunmehr neuer Herr des Hilgerschen Hofes.
    Inga ging wie betäubt auf sie zu. Regungslos schaute sie auf das Kind, den kleinen Jungen, der rosig und gesund an der Brust seiner Mutter lag.
    Stumm nickte Inga, und Ada blickte sie lange an. Sie sagten beide nichts, aber in Adas Augen war die Angst zu erkennen, die die Schwägerin ihr mit ihrem merkwürdigen Verhalten einflößte.
    Inga senkte den Blick, dann atmete sie tief ein und ging zu der Stelle, an der Adas Mann, Ansgar, noch immer friedlich schlief. Mit schnellen Bewegungen klopfte sie ihm mit ihren Fingerspitzen auf die Schulter. Als er sich rührte, sprang sie einen Schritt zurück.
    »Lass mich in Frieden, Weib«, brummte er nur und drehte sich wieder um, ohne die Augen zu öffnen. Inga klopfte erneut.
    »Verschwinde«, rief er nun wütend und richtete sich auf. Erst jetzt erkannte er, dass es nicht Ada, sondern die Frau seines Bruders war, die vor seiner Schlafstatt stand. Mit einem Blick, der offen ließ, was er von dieser ungewöhnlichen Situation erwartete,
schaute er Inga an. Erst als er bemerkt hatte, dass auch Ada bereits erwacht war, fragte er grimmig: »Was willst du?«
    »Rothger ist tot. Du musst ihn holen gehen.«
     
    »Du hast ihn umgebracht. Du warst es. Du warst es, du Unholdin. Du Hexenbrut! Du warst es!«
    In dem Moment, in dem Ansgar und der junge Gernot ihren toten Bruder auf den Hof gebracht hatten, hatten das schrille Gebrüll und die üblen Beschimpfungen des losen Weibes begonnen. Sie galten Inga. Diese saß nur stumm auf der langen Bank, hielt sich die Ohren zu und blickte ihre vor Trauer rasende Rivalin stumpf an.
    Es war schließlich Ada, die sich erhob, ihren Säugling dem alten Ulrich in die Arme drückte und der kreischenden
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