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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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beschien. Aus fünf Richtungen tauchten nun die fünf Ritualmeister auf, jeder in eine weiße Kutte gekleidet, und marschierten feierlich auf die Mitte zu. Langsam erreichten sie die kreisrunde Arena und erklommen dann die Stufen des Altarpentagramms. Dort blieben sie stehen, ein jeder in einer Ecke. Sie breiteten ihre Arme aus und fassten sich an den Händen. Ein leises, flächiges Rauschen erfüllte den ganzen Tempelsaal, als alle Andächtigen sich von ihren Sitzen erhoben und dies nachtaten. Darius fühlte eine zierliche Hand in der seinen, durch die Seide ihres Handschuhs fühlte er, dass sie ganz kalt war. Seine andere Hand blieb leer.
    „So lasst uns erneut spüren die Kraft unserer Gemeinschaft“, hob getragen der erste Rezitator an. Seine Stimme war alt und brüchig, und suchte vergeblich auf einer Tonhöhe zu verharren, „denn spüren wir gegenseitig unser Sein, so werden wir in Ewigkeit nicht vergessen.“
    „So sei es“, antwortete die Menge.
    Alle setzten sich wieder und lösten ihre Hände voneinander. „Wir haben jetzt unsere Zeit“, fuhr der nächste Rezitator fort. Seine Stimme war etwas jünger und höher. „Für jeden von uns wird das Sein einst in das zurückfallen, was vor dem Anbeginn war. So lasst uns das würdigen, was uns nun erfüllt. Zeit haben wir nur jetzt. Lasset uns freuen am Hier und am Jetzt.“
    Es klang nicht freudig. Einmal mehr klang es, als suchte der Redner nur eine große Unruhe mit schönen Worten zu überdecken. Schon immer hatte Darius jene unbestimmte Angst wahrgenommen, die alle in der Stadt erfüllte. Auf merkwürdige Weise wirkt es auf ihn beruhigend, dass alle diese Angst teilten.
    „Lasst uns ehren die Eigenschaft des Erinnerns“, fuhr der Rezitator fort, „denn sie hält uns dort, wo wir sind. Sie bewahrt, sie erhält. Das, was sonst verloren ginge, was versänke in den unergründlichen Wogen des Nichts, trägt sie nach oben, trägt sie ans Ufer des Seins. Sie lässt uns Gast sein in dieser Stadt, auf der der wohlwollende Schein des Mondes ruht wie ein liebevoller Blick. Helód gothséneth!“
    Die Andächtigen neigten alle ihre Köpfe. „Helónd naggérenth!“ antwortete die Menge.
    Die Lobrede auf die Guten Werke schloss sich nun an, ein langes Gebet, das Darius schon unzählige Male gehört hatte, ohne es je richtig verstanden zu haben. All die Lehren waren festgehalten in den Kaddharsiaden, den heiligen Büchern, die seit Jahrtausenden das Fundament des Glaubens bildeten. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, die Alte Sprache zu lernen, zumal sie ausschließlich im Tempel benutzt wurde und sonst nirgendwo. In der Stadt gab es ein eigenes Forschungszentrum, das sich mit der Geschichte und den Bedeutungen jener Sprache befasste, die der Blüte einer erloschenen Hochkultur entstammte und angeblich direkt auf einer aus dem unendlichen Dunkel einer archaischen Vorzeit entstammenden Ursprache basierte. In einer Übersetzung, die selbst schon etwa dreitausend Jahre alt war, hatte er einmal etwas gelesen über die Bedeutung des eigenen Wirkens, über die Erfüllung von Pflichten und über das Hinterlassen von Spuren in der Zeit. Wieder war es Beda gewesen, der ihn auf die große Bedeutung dieser Zeilen hingewiesen hatte. Wenn es darum ging, war Beda immer ganz ernst. Er gab nichts aus der Hand, das nicht bis ins Detail stimmig war.
    Beda.
    Darius dacht daran, wie es wohl werden würde, wenn Beda einst fortginge. Ein- zweimal hatte er solche Andeutungen gemacht, ohne konkreter zu werden. Ganz selten hatte er ihn beobachten können, wie er mit versonnenem Blick auf der oberen Balustrade saß und aufs Meer hinaussah. Vielleicht war es gerade jenes nur allzu bekannte Gefühl einer unbestimmten, inneren Sehnsucht, die sie beide so sehr verband. Darius hatte dies ansonsten noch bei niemand anderem wahrgenommen. Ivar, der Papierlieferant zum Beispiel. Regelmäßig kam er mit seinem Handkarren, lieferte die Bögen, die Tinte, die Federn, immer freundlich, pünktlich, und sprach kein Wort mehr als nötig. Darius war überzeugt, dass Ivar sich noch nie in seinem Leben auch nur einen Gedanken darüber gemacht hatte, dass es Dinge geben könnte, die man nicht sehen oder anfassen könnte. Aber auch die Kollegen im chemischen Labor, das in einem anderen Flügel des Klosters untergebracht war, schienen niemals Dinge in Frage zu stellen, oder etwas hinter den sichtbaren Dingen zu vermuten, noch nicht einmal die Forscher im historischen Archiv. Man lebte und arbeitete so nah
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