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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt
Autoren: Andreas Steiner
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typisches Lächeln. „Wenn das Ritual vorbei ist, komme ich wieder hierhin ans Tor.“
    Darius wollte antworten. Beda kam ihm zuvor. „Und ich gehe allein ... ausnahmsweise“, fügte er bestimmend hinzu.
    Darius nickte kurz. Nicht, weil er Bedas Gründe erahnte oder gar verstand. Er war es gewohnt, Dinge hinzunehmen, wie sie kamen. Wieder hatte sich diese Schwere auf seinen Geist gesenkt, und das Mondlicht brannte fast in seinen Augen. Fast gleißend war das Licht auf den glatten Steinflächen. Es trieb ihn ins Dunkel. Wie im Traum wandte er sich ab. Er schaute noch einmal kurz zurück, sah den Freund unverändert in der Gasse stehen. Dann durchschritt er das Tor, hinein in den Hohlweg, der ins Innere führte, und wohltuender Schatten umgab ihn.

    Die breiten Stufen führten abwärts in die tiefste Mitte. Darius schauerte, wie immer, wenn er kalte Feuchtigkeit spürte. Er wusste, fünf Eingänge waren es insgesamt, in fünf Richtungen gleichmäßig verteilt, an allen Seiten der Stadt. Jeder der schwach durch Ampeln erleuchteten Gänge mündete in den unterirdischen Zentralen Ring, von den Einwohnern nur „der Schlauch“, genannt, der, tief im Herzen des Berges um den ganzen Tempel herum führte, und auf seinen Innenseiten zahlreiche Portale aufwies, durch die die Menschen nun in den Tempel strömten. Selbst ohne die Momente der körperlichen Schwäche, die Darius permanent heimsuchten, hätte er mindestens eine Stunde gebraucht, um den Tempel einmal zu umrunden. Wie die zubringenden Gänge selbst war auch der Schlauch von Kreuzrippengewölbe gekrönt, das zu beiden Seiten auf mächtigen Säulen ruhte, die ihrerseits reich verziert waren. Keine Säule glich der anderen, jede wies ein anderes Muster oder Ornament auf, so dass Ortskundige immer wissen konnten, an welcher Stelle des Schlauches sie sich befanden, doch waren die Säulen sich manchmal so ähnlich, dass Ungeübte leicht in Verwirrung kamen. Das Gewölbe selbst war mit zahlreichen Gemälden bedeckt, die aber im ewigen Zwielicht kaum zu erkennen waren. Auch die Wände zwischen den Säulen waren mit verwitterten Bildern versehen, doch der Verfall hatte die meisten völlig entstellt. In regelmäßigen Abständen waren in die äußeren Seitenwände jedoch statt der Bilder tiefe Nischen eingelassen, ähnlich kleinerer Seitenkapellen, die früher einem besonderen Zweck gedient haben mochten. Aber jetzt gingen die meisten daran vorbei, bewegten sich auf die Türen zu, um einen Sitzplatz im Tempel zu finden. Der Schlauch hallte von den unzähligen Fußtritten glatter Sohlen auf verwittertem Marmor.
    Darius bewegte sich auf sein Portal zu. Er nannte es nur „sein“ Portal, denn natürlich stand es jedermann offen. Die Ornamente auf dem Steinbogen hatten ihm sofort gefallen, kleine, runde Wirbel oder Strudel, Spiralen, die ineinander übersprangen und ihrerseits wieder ein regelmäßiges, organisches Muster bildeten. Immer betrat er den Tempel durch sein Portal. Er folgte dem Mittelgang, zu dessen beiden Seiten sich die endlosen Stuhlreihen erstreckten, zum großen Teil schon von Andächtigen besetzt. Er ließ den Blick nach allen Seiten schweifen, verlangsamte seinen Schritt. Endlich nahm er einen Platz etwas mehr zur Mitte hin neben zwei jungen Frauen, die flüsternd in ein Gespräch vertieft waren. Der Sitz neben ihm blieb leer; Beda hätte sonst dort gesessen. Erst jetzt war er bereit, die Atmosphäre des Tempelinneren auf sich wirken zu lassen.
    Der Anblick war immer wieder erhaben, eindrucksvoll, fast einschüchternd. Die runde Halle war von riesenhaften Ausmaßen. Um den zentralen Altarbereich in Form eines erhöhten Pentagramms konzentrierten sich die endlos wirkenden Kreise von Sitzreihen wie in einem Amphitheater, nach außen hin ansteigend und im Schatten verschwindend. Hell erleuchtet war lediglich der Platz in der Mitte, und die gewaltige Kuppel entschwand in unglaublicher Höhe dem Blick der Wahrnehmenden, so als säße man unter dem Himmel selbst. Denn von diesem Himmel schien der Mond.
    Der „Mond“, eine runde Laterne, bestrahlte jetzt das Zentrum des Tempels, und alle Gespräche verstummten. Es war kaum möglich, an diesem Ort keine Ehrfurcht zu empfinden. Ein Gefühl elektrischer Spannung erfüllte Darius, von Erwartung und Erhabenheit. Es war gut, hier zu sein.
    Das leise Gemurmel erstarb schlagartig, als die Portale nun alle geschlossen wurden. Die Andächtigen saßen jetzt im Dunkeln, während der „Mond“, die Mitte des Saales
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